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Hilf mir, Jacques Cousteau: Roman (German Edition)

Hilf mir, Jacques Cousteau: Roman (German Edition)

Titel: Hilf mir, Jacques Cousteau: Roman (German Edition)
Autoren: Gil Adamson
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»Gerafft.« Mein Vater und ich, wir wetten auf alles, was sich dazu hergibt, heute auf den roten Plüschvorhang, ob er Falte um Falte nach oben gerafft oder durch einen Schlitz in der Decke auf eine Rolle gekurbelt wird. Ich sollte es eigentlich besser wissen. Mein Vater war schon einmal mit mir hier und erinnert sich. Als sich der Vorhang auf seiner staubigen Aufwärtsfahrt rumpelnd zusammenfaltet und die Kurzcartoons beginnen, strecke ich die Daumen hoch, weil mein Vater gewonnen hat.
    Meine erschöpfte Mutter ist zu Hause geblieben. Sie liegt quer über dem Doppelbett wie aus dem Flugzeug gestürzt, und mein neugeborener kleiner Bruder schläft in der Wäscheschublade. Meine Eltern haben weder ein Kinderbettchen noch einen Wickeltisch oder sonst etwas gekauft, bevor das Baby nicht wohlbehalten auf der Welt war, denn meine Mutter stammt von Schotten ab und ist extrem abergläubisch. In ihrer Familie lässt niemand Schuhe auf einem Tisch stehen, niemand geht zu einer anderen Tür hinaus, als durch die er hereingekommen ist, niemand äußert Zuversicht, ohne auf Holz zu klopfen. Mein linkisch weltfremder Vater bringt meine Mutter mit seinem eingefleischten Optimismus manchmal völlig aus der Fassung, ist sie doch überzeugt, dass auf sie beide noch etliche Katastrophen warten.
    Und wer weiß, vielleicht hat sie ja recht. Vielleicht passiert tatsächlich das Schlimmste, wenn man nur lange genug darauf wartet.
    Aber heute schläft sie, eine Hand zur Schublade ausgestreckt, in der ein nagelneuer Andrew zappelt und strampelt. Meine Eltern haben mich mit Aufmerksamkeit nur so überschüttet, seit die Nachbarin mir eine Puppe schenkte. Ich hatte mich artig bedankt und war mit meinem Geschenk nach oben gegangen. Später fanden sie mich, wie ich den Puppenkopf immer wieder mit der Badtür gegen den Türrahmen quetschte. Meine Mutter war hochschwanger. Sie und mein Vater sahen mich nur an. Ich riss der Puppe den verformten Kopf ab und streckte ihn meinen Eltern hin.
    Die Kurzfilme sind vorbei, und mein Vater ist schon weggedämmert; seine Hände halten die Getränkedose und die Popcorntüte von selbst auf seinen Knien fest. Ich schlürfe einen großen Schluck Limo und strahle zur Leinwand hoch. Bambi! Wunderbar.
    Aber es ist gar nicht wunderbar. Als Erstes wird Bambis Mutter von den Jägern erschossen. Sie murmelt ein paar Überlebenstipps, sieht ihrem Sohn beim Spielen zu und schwupp , ist sie tot. Als reichte das noch nicht, geht der ganze Wald in Flammen auf. Das Schlimmste, was ich je gesehen habe. Ungläubig starre ich auf die Leinwand, die Kinnlade fällt mir herunter, immer fester umklammere ich meine Limo.
    Mein Vater erzählte mir später, dass er in diesen Minuten von seinem Bruder Bishop geträumt hat. In diesem Traum steht Bishop in einer Eiswüste. Über seinem Kopf blinkt das Polarlicht wie eine ständig an- und ausgeknipste Schlafzimmerlampe, und neben ihm ragt die Gebirgsflanke eines erlegten Wals auf. Bishop öffnet den Mund und stößt ein seltsames Geheul aus. Ein fürchterliches Geräusch, Folter für die Ohren meines Vaters; weitere, ähnlich heulende Stimmen fallen ein. Tatsächlich sind die meisten Kinder im Kino in Tränen aufgelöst.
    »Himmelarsch«, sagt mein Vater laut, »warum hast du ihn dann abgeknallt?« In diesem Moment knickt unter meinem Klammergriff mein Becher 7-UP ein, und ein Geysir von Limo platscht auf uns beide herunter. Mein Vater wacht auf und wankt mit mir, einem hysterisch heulenden Bündel, den Gang entlang; er hält mich mit ausgestreckten Armen von sich weg wie eine tropfende Einkaufstasche.
    »Ist er nicht süß?«, quiekt die Frau. »So ein niedliches Püppchen!« Sie hat Marmelade und Babysachen vorbeigebracht, und als sie das Baby in einer Schublade vorfindet, kann sie ihre Bestürzung kaum verbergen. Um ihre Verlegenheit zu überspielen, quietscht sie los. Andrew liegt mit dem Kopf auf einem Handtuch, trägt eine Windelhose aus Plastik und sieht zu dem Gestrüpp von Formen hoch, die sich über ihn beugen. Auch ich spähe in die Schublade und bohre einen Finger in Andrews Füße. Ich finde sie komisch, Zehen wie Maiskörner, komisch auch, wie das Baby mit gesträubten Haaren in die Welt gafft, als hätte es so etwas noch nie gesehen. Wie sich später herausstellt, rührt Andrews großäugiges Staunen daher, dass er dringend eine Brille braucht, ohne die er nichts sieht. Er glotzt auf den Schemen der Frau und grinst. Sie schrillt los wie eine Sturm läutende Türglocke, was
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