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HHhH

HHhH

Titel: HHhH
Autoren: Binet Laurent
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werde ich sterben, bevor ich auch nur die Vorbereitungen des Attentats zu Papier gebracht habe. Mir ist sehr wohl bewusst, dass mein von Grund auf gesunder Wissensdurst allmählich pathologische Züge annimmt: Letztlich dient er als Vorwand, um das Schreiben aufzuschieben.
    Während ich mich in Wartestellung befinde, habe ich den Eindruck, dass einfach alle Ereignisse meines täglichen Lebens auf diese Geschichte hindeuten. Natacha bezieht ein Studio in Montmartre, der Sicherheitscode der Eingangstür lautet 4206 – augenblicklich schießt mir durch den Kopf: Juni 42. Natacha teilt mir den Hochzeitstermin ihrer Schwester mit, und ich rufe fröhlich: «27. Mai? Unglaublich! Der Tag des Attentats!» (Natacha ist gekränkt.) Voriges Jahr im Sommer machten wir auf der Rückkehr von Budapest in München Station: auf dem großen Platz in der Altstadt ein schwindelerregender Aufmarsch von Neonazis. Beschämt erzählten mir die Münchner, so etwas hätten sie noch nie gesehen (ich weiß nicht, ob ich ihnen glauben kann). Zum ersten Mal in meinem Leben sehe ich mir einen Rohmer auf DVD an: Der Film spielt in den dreißiger Jahren, und der Hauptcharakter ist ein Doppelagent, der Heydrich persönlich trifft. In einem Rohmer! Amüsiert stelle ich fest, wie einen alles auf ein bestimmtes Thema hinzuweisen scheint, wenn man sich so sehr dafür interessiert.
    Außerdem lese ich jede Menge historische Romane, um zu sehen, wie andere mit den Einschränkungen dieses Genres umgehen. Einige nehmen alles ganz genau, anderen scheint es mehr oder weniger egal zu sein, und wieder anderen gelingt es, sich elegant um die Begrenzungen der historischen Wirklichkeit herumzuschlängeln, ohne zu viel hinzuzudichten. Erstaunt stelle ich fest, dass in jedem einzelnen Fall die Fiktion über die historischen Ereignisse triumphiert. Eigentlich logisch, aber es fällt mir schwer, mich zu entscheiden.
    Ein Erfolgsbeispiel ist meiner Meinung nach der Roman Le Mors aux dents von Vladimir Pozner. Er erzählt die Geschichte des Barons von Ungern-Sternberg; besagter Baron läuft übrigens dem Comic-Helden Corto Maltese in Corto Maltese in Sibirien über den Weg. Pozner unterteilt seinen Roman in zwei Abschnitte: Der erste spielt in Paris und beleuchtet die Recherchearbeit des Autors, der Zeugenberichte über seine Romanfigur zusammenträgt. Im zweiten Teil findet sich der Leser plötzlich mitten in der Mongolei wieder – man stolpert sozusagen unversehens in die eigentliche Romanhandlung hinein. Das Ergebnis ist eine ergreifende und äußerst gelungene Geschichte. Von Zeit zu Zeit lese ich diese Passagen. Genau genommen sind die beiden Romanabschnitte durch ein Übergangskapitel miteinander verbunden, das folgenden Titel trägt: «Drei Seiten Geschichte». Es endet mit dem Satz: «1920 hatte gerade begonnen.»
    Genial, finde ich.

12
    Seit etwa einer Stunde klimpert Maria unbeholfen auf dem Klavier herum, da hört sie, wie ihre Eltern das Haus betreten. Ihr Vater Bruno hält seiner Frau Elisabeth, die ein Baby auf dem Arm trägt, die Tür auf. Sie rufen nach dem kleinen Mädchen: «Komm her und schau mal, Maria! Siehst du, das ist dein Brüderchen. Er ist noch ganz klein, und du musst sehr liebevoll mit ihm umgehen. Er heißt Reinhardt.» Maria murmelt etwas Zustimmendes. Vorsichtig beugt sich Bruno über seinen neugeborenen Sohn. «Wie hübsch er ist!», sagt er. «Und so blond!», sagt Elisabeth. «Er wird einmal Musiker.»

13
    Natürlich könnte (oder sollte ich sogar?) mit einer als Einleitung getarnten ausufernden Beschreibung der schönen Stadt Halle beginnen und mich in bester Victor-Hugo-Manier auf zehn Seiten über den Ort auslassen, in dem Heydrich 1904 das Licht der Welt erblickte. Ich könnte über die Straßen schreiben, die Geschäfte, die Sehenswürdigkeiten, über alle lokalen Besonderheiten, die Stadtverwaltung, die diversen Infrastrukturen, die gastronomischen Spezialitäten, die Einwohner und ihre geistige Verfassung, über ihre Sitten und Bräuche, ihre politischen Strömungen, ihre Vorlieben, ihre Hobbys. Im Anschluss böte ich eine Nahaufnahme vom Haus der Familie Heydrich: Welche Farbe haben die Fensterläden und die Vorhänge, wie ist die Zimmeraufteilung, wie die Beschaffenheit des Holzes, aus dem der Tisch in der Mitte des Wohnzimmers gefertigt wurde. In der Folge eine minuziöse Beschreibung des Klaviers, begleitet von einer ausgedehnten Abhandlung über die deutsche Musik zu Beginn des Jahrhunderts, ihren Platz in der
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