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HHhH

HHhH

Titel: HHhH
Autoren: Binet Laurent
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Gesellschaft, über die Komponisten, die Rezeption ihrer Werke und die Bedeutung Wagners … Und erst dann begänne meine eigentliche Erzählung. Ich erinnere mich noch an einen nicht enden wollenden Exkurs von mindestens achtzig Seiten über die Funktionsweise der Rechtsinstitutionen im Mittelalter in Der Glöckner von Notre-Dame . Ich fand das sagenhaft. Trotzdem habe ich diese Passage übersprungen.
    Also spreche ich mich dafür aus, meine Geschichte ein wenig zu stilisieren. Das trifft sich ganz gut, denn im Gegensatz zu einigen vorangehenden Episoden, bei denen ich der Versuchung widerstehen musste, mein Wissen zu sehr zur Schau zu stellen und diese oder jene Begebenheit bis ins kleinste Detail zu beschreiben, weil ich eine Überfülle an Informationen darüber besitze, muss ich im Gegenzug zugeben, dass meine Kenntnisse über Heydrichs Geburtsstadt noch äußerst mager sind. Es gibt in Deutschland zwei Städte namens Halle, und ich weiß zum jetzigen Zeitpunkt nicht einmal, von welcher der beiden ich überhaupt spreche. Doch ich komme zu dem (vorläufigen) Schluss, dass es nicht so wichtig ist. Wir werden sehen.

14
    Der Lehrer ruft die Schüler nacheinander auf: «Reinhardt Heydrich!» Als Reinhardt näher tritt, hebt ein Kind die Hand: «Herr Lehrer! Warum rufen Sie ihn nicht bei seinem richtigen Namen?» Ein freudiges Raunen geht durch das Klassenzimmer. «Er heißt Süss, das weiß doch jeder hier!» Da können sich die Schüler nicht mehr halten, sie fangen laut an zu johlen. Reinhardt sagt nichts und ballt die Fäuste. Er sagt nie etwas. Er ist der Klassenbeste. Gleich in der Turnstunde wird er wieder der Beste sein. Und er ist kein Jude. Hofft er zumindest. Anscheinend war seine Großmutter in zweiter Ehe mit einem Juden verheiratet, aber das hat nichts mit seiner eigenen Familie zu tun. So viel meint er aus den offiziellen Gerüchten und den empörten Reaktionen seines Vaters, der alles abstreitet, herausgehört zu haben, aber er ist sich ehrlich gesagt nicht hundertprozentig sicher. In der Zwischenzeit wird er dafür sorgen, dass es den anderen beim Turnunterricht die Sprache verschlägt. Und wenn sein Vater ihm heute Abend Geigenunterricht erteilt, wird er ihm erzählen können, dass er wieder Erster geworden ist, und sein Vater wird stolz auf ihn sein und ihn beglückwünschen.
    Doch an diesem Abend wird seine Geigenstunde ausfallen, und Reinhardt wird seinem Vater nicht einmal von der Schule erzählen können. Wenn er zurückkommt, wird er erfahren, dass Krieg ist.
    «Warum ist Krieg, Papa?»
    «Weil Frankreich und England auf Deutschland eifersüchtig sind, mein Sohn.»
    «Warum sind sie eifersüchtig?»
    «Weil die Deutschen stärker sind als sie.»

15
    Nichts ist künstlicher als ein historischer Bericht mit Dialogen, die anhand von Zeugenberichten aus mehr oder weniger erster Hand rekonstruiert wurden, unter dem Vorwand, der toten Vergangenheit auf dem Papier Leben einhauchen zu wollen. Stilistisch nähert sich dieses Verfahren der Hypotypose an. Bei dieser Stilfigur wird ein Bild so lebensecht dargestellt, dass der Leser den Eindruck erhält, es direkt vor Augen zu haben. Geht es darum, ein Gespräch wiederzubeleben, wirkt das Ergebnis oft erzwungen, und der erwünschte Effekt wird ins Gegenteil verkehrt: Überdeutlich erkenne ich die grobgesponnenen Fäden, überdeutlich höre ich die Stimme des Autors heraus, der sich bemüht, die historischen Figuren nachzuahmen, sich ihren Tonfall zu eigen zu machen.
    Es gibt nur drei Voraussetzungen, unter denen man einen Dialog tatsachengetreu nachbilden kann: wenn es eine Tonaufnahme, eine Videoaufzeichnung oder eine Steno-Mitschrift gibt. Wobei letztere Methode keine exakte, auf Punkt und Komma genaue Wiedergabe des Inhalts sein muss. Es kommt vor, dass der Stenograph kürzt, zusammenfasst, hier und da etwas strafft; aber gehen wir einmal davon aus, dass die Stimmung und der Ton des Gespräches trotzdem auf zufriedenstellende Weise erfasst werden.
    Wie dem auch sei, meine Dialoge sind erfunden, sofern sie sich nicht auf präzise, verlässliche und wortgenaue Quellen stützen können. Meinem vorangehenden Beispiel weise ich auch nicht die Funktion einer Hypotypose zu, sondern eher die gegenteilige – die einer Parabel. Wenn schon nicht äußerst genau, dann zumindest äußerst beispielhaft. Und damit keine Verwirrung entsteht: Alle Dialoge, die ich erfinde (es wird aber nicht viele davon geben), werden wie Szenen eines Theaterstücks behandelt.
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