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HHhH

HHhH

Titel: HHhH
Autoren: Binet Laurent
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an meinem perplexen Gesichtsausdruck oder an meinem Bemühen um ein halbwegs verständliches Tschechisch, jedenfalls nahm mir die ältere Dame die Broschüre schließlich entschlossen aus der Hand und ließ sie in Natachas Handtasche verschwinden. Sie bedeutete uns, Stillschweigen zu bewahren und zu gehen. Wir verabschiedeten uns überschwänglich. In Anbetracht der Besucherzahlen des Museums würde das Begleitheft sicherlich niemandem fehlen. Trotzdem war es eine sehr nette Geste. Zwei Tage später ging ich, eine Stunde bevor unser Bus nach Paris abfuhr, noch einmal zum Museum zurück und überreichte der liebenswürdigen Dame eine Schachtel Pralinen. Sie war völlig überrumpelt und wollte sie zuerst nicht annehmen. Ohne die Informationsfülle der Broschüre, und somit ohne die kleine Dame, hätte dieses Buch nicht die Form bekommen, die es von nun an annehmen wird. Ich wollte, ich hätte sie nach ihrem Namen gefragt, um mich an dieser Stelle etwas feierlicher bei ihr bedanken zu können.

9
    Auf dem Gymnasium nahm Natacha zwei Jahre in Folge am Concours de la Résistance , einem Schülerwettbewerb zum Thema Widerstand und Deportation, teil und gewann beide Male, was meines Wissens nie zuvor geschehen war und auch danach nie wieder passierte. Dieser doppelte Sieg ermöglichte es ihr unter anderem, bei einer Gedenkveranstaltung die Fahne zu tragen und ein Konzentrationslager im Elsass zu besichtigen. Während der Busfahrt dorthin saß sie neben einem ehemaligen Widerstandskämpfer, der sie ins Herz schloss. Er lieh ihr mehrere Bücher und Dokumente, doch später verloren sie sich aus den Augen. Als sie mir zehn Jahre später von dieser Geschichte erzählte (mit leichten Gewissensbissen, wie man sich unschwer vorstellen kann, weil sie immer noch im Besitz seiner geliehenen Schriftstücke war und nicht einmal wusste, ob ihr Widerstandskämpfer noch lebte), ermutigte ich sie, den Kontakt wiederherzustellen, und obwohl der Mann mittlerweile ans andere Ende Frankreichs gezogen war, fanden wir seine Spur wieder.
    So kam es, dass wir ihm einen Besuch in seinem schönen schneeweißen Haus bei Perpignan abstatteten, wo er sich mit seiner Frau niedergelassen hatte.
    Während wir am Muskatwein nippten, lauschten wir seinen Erzählungen – wie er sich der Widerstandsgruppe angeschlossen und an welchen Aktivitäten er sich beteiligt hatte. 1943 war er neunzehn Jahre alt und arbeitete in der Milchfabrik seines Onkels, der schweizerische Wurzeln hatte und so gut Deutsch sprach, dass die Soldaten, die sich in der Milchfabrik mit Lebensmitteln eindeckten, immer noch gerne ein Weilchen blieben und sich in ihrer Muttersprache mit seinem Onkel unterhielten. Zunächst wurde er gefragt, ob er aus den Gesprächen zwischen den Soldaten und seinem Onkel interessante Informationen herausfiltern könne, beispielsweise über die Bewegung der Truppen. Danach ließ man ihn an Fallschirm-Aktionen teilnehmen, genauer gesagt half er dabei, die Materialkisten aufzusammeln, die nachts aus den Flugzeugen der Alliierten abgeworfen wurden. Als er schließlich das Alter erreichte, in dem er Gefahr lief, im Rahmen des Service du Travail obligatoire (STO) als französischer Zwangsarbeiter verpflichtet und nach Deutschland geschickt zu werden, schloss er sich der Widerstandsbewegung an. Er diente in der Kampfeinheit und nahm an der Befreiung der Bourgogne teil, offenbar sehr aktiv, wenn man die Anzahl der Deutschen bedenkt, die er getötet haben soll.
    An seiner Geschichte war ich aufrichtig interessiert, aber ich hoffte auch, etwas zu erfahren, was mir für mein Buch über Heydrich nützlich sein könnte. Was genau das sein sollte, wusste ich allerdings selbst nicht.
    Ich fragte ihn, ob er nach seinem Anschluss an die Widerstandsbewegung eine militärische Ausbildung erhalten habe. Nichts dergleichen, gab er zur Antwort. Man hatte ihm beigebracht, ein schweres Maschinengewehr zu handhaben, und er nahm an einigen Trainingseinheiten teil: Zusammen- und Auseinanderbauen der Waffe mit verbundenen Augen und Schießübungen. Bei seinem Eintritt wurde ihm einfach eine Maschinenpistole in die Hand gedrückt, und das war’s. Eine englische Maschinenpistole, eine Sten. Eine Waffe, die anscheinend alles andere als verlässlich war: Ein Schlag mit dem Kolben auf den Boden genügte, um den gesamten Magazininhalt querbeet zu entleeren. Absoluter Schund. «Die Sten war ein Haufen Scheiße, anders kann man es nicht ausdrücken!»
    Ein Haufen Scheiße also,
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