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Hexenkind

Hexenkind

Titel: Hexenkind
Autoren: Sabine Thiesler
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den Hörer auf die Gabel und trank sein Glas Wein in einem Zug leer.

3
    Um zehn Uhr zweiunddreißig am nächsten Morgen wachte Romano auf, weil Enzo schrie. Es war ein hoher, lang anhaltender Schrei, kraftvoll aber dennoch wie das Jammern eines Klageweibes. Er schrie und schrie, unaufhörlich. Romano sprang aus dem Bett, riss seinen Bademantel vom Haken und rannte barfuß ins untere Stockwerk. Enzo saß in seinem Rollstuhl mitten im Zimmer, sein Gesicht war tränenüberströmt und krebsrot, und seine Hände hämmerten zuckend und unkontrolliert auf die Lehnen, was seinen ganzen Körper erschütterte.
    Zwischen Couchtisch und Fernseher standen zwei Carabinieri, die Romano schon einige Male in Ambra gesehen hatte, aber deren Namen er nicht kannte. Sie schwiegen. Einer der beiden räusperte sich ab und zu, der andere biss sich auf die Unterlippe und schnalzte leise. Teresa lehnte am Fenster und massierte die Perlen ihres Rosenkranzes zwischen den Fingerkuppen, wobei sie tonlos ein »Gegrüßet seist du, Maria« vor sich hinmurmelte.
    Romano wurde kalt vor Angst.
    »Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes«, raunte Teresa.
    »Was ist los? Was ist passiert?«, fragte Romano.
    Ein Carabiniere machte einen Schritt auf Romano zu
und wollte etwas sagen, aber Enzos Geschrei war derart durchdringend und ohrenbetäubend, dass es unmöglich war zu sprechen.
    »Hör auf!«, brüllte Romano. Er packte seinen Stiefvater an den Schultern und schüttelte ihn derart, dass sein Kopf vor und zurück flog. Es sah aus, als würde er Enzo das Genick brechen, aber Enzo schrie dennoch weiter. Die quietschenden Laute passten sich jetzt wellenartig den brutalen Bewegungen seines Kopfes an.
    »Lass ihn«, sagte Teresa. »Er kommt schon wieder zu sich.«
    In diesem Moment hörte Enzo auf. Er sackte in sich zusammen und zuckte nur noch ab und zu mit den Schultern.
    »Sarah ist tot«, sagte Teresa in die plötzliche Stille. »Sie ist im Casa della Strega gefunden worden. Irgendjemand hat ihr die Kehle durchgeschnitten. Und dem Köter auch.«
    Romano sah seine Mutter fassungslos an. »Das ist nicht wahr.«
    »Doch, das ist es.« Da waren weder Trauer noch Entsetzen über das Geschehene in ihrer Stimme.
    »Signor Simonetti«, begann der ältere der beiden Carabinieri und verfluchte innerlich diesen Tag, der jede Menge unangenehmer Situationen mit sich brachte und einen Haufen Arbeit nach sich ziehen würde. »Signor Simonetti, es tut mir sehr leid, aber -«
    Romano fiel ihm ins Wort.
    »Wer hat sie gefunden?« Auf seinen Wangen bildeten sich hektische rote Flecken.
    »Ein Jäger. Ein Jäger aus Bucine. Er war zufällig in der Nähe und wunderte sich über die weit offen stehende Tür des Hauses.«

    »Aber was …«, stammelte Romano, »ich meine, was hatte er da zu suchen? Und wer tut denn so was? Wer schneidet denn einer Frau, die keiner Seele was getan hat, einfach so die Kehle durch?«
    Der ältere Carabiniere erinnerte sich nicht, schon jemals in einer solchen Situation gewesen zu sein. Und Befragungen waren überhaupt nicht seine Stärke. Das wollte er lieber dem Commissario überlassen, der mit dem Fall betraut wurde. Dennoch machte er einen halbherzigen Vorstoß.
    »Signor Simonetti, wo waren Sie heute Nacht?«
    Romano antwortete nicht. Er setzte sich an den Tisch und schlug die Hände vors Gesicht.
    Teresa drehte sich wieder zum Fenster und blickte hinaus. Noch wusste niemand etwas. Noch war die Piazza wie leergefegt.
    Die beiden Carabinieri sahen sich an. ›Später‹, sagten ihre Blicke, ›nicht jetzt‹.
    »Mi dispiace«, murmelte der jüngere der beiden und folgte seinem Kollegen, der langsam und wortlos aus dem Zimmer ging.
    Gut zwei Minuten blieb Romano unverändert sitzen, unbeweglich, das Gesicht in den Händen. Dann hob er den Kopf. Seine Augen brannten. Er stand auf, und jetzt erst wurde ihm bewusst, dass er immer noch barfuß und im Bademantel war.
    »Wo ist Edi?«, fragte er seine Mutter und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare.
    »In der Küche. Er hat die Geschirrschränke ausgeräumt und wäscht alles ab. Seit heute Morgen um acht.«
    Romano nickte. »Koch mir einen starken Kaffee, Mutter«,
bat er und ging nach oben, um sich zu waschen und anzuziehen.
    In diesem Moment setzte Enzos Geschrei wieder ein.
    »Armer Trottel«, sagte Teresa geringschätzig und ging ebenfalls aus dem Zimmer, um in der Küche die Espressomaschine anzuschalten.
    Enzo war so mit sich und
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