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Hexenkind

Hexenkind

Titel: Hexenkind
Autoren: Sabine Thiesler
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irgendwo anders Pilze suchen sollte, aber die Sorge um Sarah hinderte ihn daran.

    Er kannte das Haus. Er hatte es sich genau angesehen, um die Versicherungssumme festzusetzen, und Sarah hatte außerdem noch Fotos von jedem Zimmer nachgereicht. Sie hatte das Haus lediglich gegen Feuer versichert, alle anderen Versicherungen hatte sie abgelehnt. »Wozu?«, fragte sie. »Hier kommt niemand in den Wald, um mich oder einen alten Stuhl oder meine dicke Jacke zu klauen. Dieses Haus findet überhaupt niemand, der es nicht kennt.« Ihre Unerschrockenheit und ihr fester Glaube, dass ihr nie etwas geschehen würde, hatten ihn fasziniert. Seiner Frau und seinen Töchtern war es unmöglich, auch nur für einen kurzen Spaziergang allein in den Wald zu gehen, aber Sarah lebte hier mit einer Sorglosigkeit, die im Dorf kaum jemand verstand.
    Jetzt rief er nicht mehr, sondern betrat, leise »Permesso« murmelnd, die Küche. Ihm wurde bewusst, dass er den Atem anhielt, als er sich umsah. In der Küche war nichts Ungewöhnliches. Sie war sauber und ordentlich, einige Teller und Tassen stapelten sich gespült zum Abtropfen auf einem Tablett, auf dem Tisch stand ein kleiner Strauß Buschrosen, und auf dem Herd gab es keinen einzigen noch so winzigen Fettspritzer. Das Einzigartige in der Küche war die der Tür gegenüberliegende Felswand des Berges, die eine ganze Küchenwand ausmachte und die Sarah völlig naturbelassen hatte.
    Neben der Küche war ein kleiner Magazinraum, wo Sarah Haushaltsgegenstände und einige Vorräte aufbewahrte, aber auch das Magazin machte einen ähnlich ordentlichen Eindruck wie die Küche.
    Marcello stellte seinen Pilzkorb neben die Spüle und stieg die leicht gewundene Treppe hoch ins obere Stockwerk.
Den Stock behielt er in der Hand. Das winzige Wohnzimmer mit dem kleinen Kamin war dunkel und leer, Sarah hatte die Fensterläden geschlossen. Auf ihrem Schreibtisch lag die angefangene Zeichnung von miteinander tanzenden Bäumen im Wald. Marcello wusste, dass Sarah Kinderbücher illustrierte. Die Schreibtischlampe brannte und beleuchtete den Raum notdürftig. An der Wand lehnten weitere Blätter mit Zeichnungen in verschiedenen Formaten, die alle vermenschlichte Pflanzen und Tiere zeigten, die zusammen Feste feierten, aßen, tranken oder von paradiesischen Zuständen träumten.
    Marcello hörte das Blut in seinen Ohren rauschen, wie das herannahende Grollen eines schweren Sturms. Seine Hand zitterte, als er unendlich langsam die Türklinke zum Schlafzimmer niederdrückte. »Sarah«, flüsterte er, bekam aber keine Antwort.
    Sarah hatte auch die Wände ihres Schlafzimmers, die aus schweren Natursteinen gemauert waren, unverputzt gelassen. Zusammen mit den alten, von Holzwürmern zerfressenen Deckenbalken gaben sie dem Raum eine fast grottenhafte Atmosphäre. Allerdings hatte sich Sarah in einem florentinischen Möbelgeschäft als Kontrast zu dem rustikalen Flair ein filigranes, golden wirkendes Messingbett bestellt, über dem stets eine weiße Spitzendecke lag. Ansonsten gab es in diesem Zimmer nur einen Sessel am Fenster, goldene Kerzenhalter und einen venezianischen Spiegel mit goldverziertem pompösem Rahmen, dem Bett genau gegenüber.
    Und in ihrem goldenen Bett lag Sarah nun mit durchgeschnittener Kehle. Ihr Kopf war leicht zur Seite gekippt, und Marcello konnte erkennen, wie tief der Schnitt ging,
der Sarahs Kopf beinah vollständig vom Rumpf abgetrennt hatte. Die kostbare Decke und ihr seidener, fliederfarbener Morgenmantel waren von dunkelrotem Blut durchtränkt. Der leichte Mantel klaffte weit auseinander und offenbarte ihre Nacktheit bis zum Bauchnabel. Auf dem Mattonifußboden hatte sich eine bräunlich rote Pfütze gebildet. Sarahs Blut war sogar gegen die Wand gespritzt und hatte ein faszinierendes unregelmäßiges Muster auf den buckligen, rauen Steinen hinterlassen.
    Marcello ging langsam wenige Schritte ins Zimmer hinein, und erst jetzt sah er, was außerdem noch in einer Blutlache auf dem Boden lag. Die Augen von Caro, dem weißen Terrier, starrten trübe an die Decke und waren weit aus ihren Höhlen getreten. Er sah aus, als habe er in seinem letzten Moment immer noch nicht glauben können, was da gerade mit ihm geschah. Caro, der den ganzen Tag geherzt, geküsst, gestreichelt, gekrault, durch die Gegend getragen und fast rund um die Uhr mit Leckereien gefüttert wurde, erlebte zum ersten und letzten Mal eine Hand, die ihm nichts Gutes tat, sondern genau wie Frauchen die Kehle
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