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Hex

Titel: Hex
Autoren: Kai Meyer
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für seine berüchtigten Massenszenen benötigte. Aus Gulaschkanonen schenkten Hilfsköche Erbsensuppe aus. Die Atmosphäre schwankte zwischen Volksfest und politischer Kundgebung.
    Sina überlegte fieberhaft, wie sie ungesehen ins Innere der Halle gelangen konnte, entschied sich dann aber für den einfachsten Weg. Sie setzte ihre eitelste Miene auf und ging geradewegs zwischen den Hunderten von Glatzköpfen hindurch, die ihr bereitwillig Platz machten. Man hielt sie tatsächlich für jemanden vom Produktionsstab.
    Ihr Vorhaben endete abrupt vor dem gewaltigen Tor. Eine Kette von Ufa-Leuten, an ihren Hemden Stecker mit der Aufschrift »Ordner«, versperrte ihr und dem Rest der heranbrandenden Masse den Weg. Es war noch nicht an der Zeit für die Komparserie.
    Sina fluchte insgeheim und bemühte sich, einen Blick ins Innere zu erhaschen. Die riesigen Filmscheinwerfer waren dunkel, um zwischen den Szenen abzukühlen. Die schwächeren Studiolichter enthüllten nur wenig von dem, was in der Halle vor sich ging. Sie erkannte eine Kamera, die vor irgendwelchen übergroßen Pappmache-Kulissen postiert war, um sie herum eine Gruppe von zehn oder zwanzig Leuten. Auf einem hölzernen Podest standen neben einer weiteren Kamera zwei Männer, Lang und einer seiner Kameraleute. Der Regisseur trug eine Flüstertüte in der Hand. In seinem rechten Auge glänzte ein Monokel.
    Sina blieb im Augenblick nichts übrig, als sich zurückzuziehen. Vielleicht gab es später eine Möglichkeit, unbemerkt in die Halle zu gelangen.
    Sie machte kehrt und ließ die Menschenmasse hinter sich. Zügig ging sie auf eines der kleineren Gebäude zu, die gleich in der Nähe standen. Ein Materiallager, nahm sie an.
    Zu ihrer Überraschung fand sie dort eine Kantine. An der Tür stand, daß nur Angestellte der Ufa Zutritt hatten, aber es gab keine Kontrollen. Sie kaufte drei belegte Brote und ging damit zurück ins Freie. Ohne Eile schlenderte sie über das Studiogelände und tat dabei ungemein zielstrebig, damit niemand auf den Gedanken kam, daß sie nicht hierher gehörte. Es wunderte sie ein wenig, wie einfach es doch war, sich ins Allerheiligste der deutschen Filmwirtschaft zu schmuggeln. Aber die Komparsen, die hier außer den Angestellten Zutritt hatten, hatten ohnehin nur ihre Suppe im Sinn. Man vertraute wohl darauf, sie mit Verpflegung und ein paar Mark im Zaum zu halten.
    Hinter einem der Flachbauten und einer Reihe hoher Birken entdeckte sie einen mittelalterlichen Burghof, gesäumt von einem trübe schillernden Graben. Daneben stand eine Dorfkirche mit verfallenem Friedhof und ein schiefes, ginsterüberwuchertes Häuschen. Alle Bauten waren leer, ihr Innenleben bestand aus Stützbalken und abgeblättertem Gips.
    Sina entsann sich, daß sie den Film gesehen hatte, für den die romantische Szenerie gebaut worden war. Sogar an den Titel konnte sie sich erinnern: Die Chronik von Grieshuus. Zum ersten Mal, seit sie das Gelände betreten hatte, spürte sie einen Hauch von Faszination. Wahrscheinlich waren die Kulissen mehrfach benutzt worden, deshalb hatte man sie nicht abgerissen. Erstaunlich, daß sie Wind und Wetter selbst über Jahre hinweg standhalten konnten.
    Aus der Ferne trug der Wind den Lärm der Metropolis- Massen herüber. Jetzt übertönte eine einzelne Stimme den Tumult, vielleicht die von Lang. Die Menschen wurden schroff aufgefordert, die ausgegebene Kleidung überzuziehen, sich in Reih und Glied zu formieren und um Himmels willen den Mund zu halten. Die Männer mußten ihre Oberkörper freimachen.
    Sina vergewisserte sich, daß niemand sie beobachtete, dann erklomm sie den Wehrgang der Burghof-Kulisse. Hier oben war sie durch die Zementzinnen vor Blicken geschützt. Sie kontrollierte noch einmal die Munition ihrer Waffe, dann wickelte sie die Brote aus. Die dünn belegten Schnitten hatten den faden Geschmack des Papiers angenommen. Trotzdem aß Sina sie bis zur letzten Krume auf.
    Danach richtete sie ihren Blick über die falschen Zinnen hinweg zur Halle. Aus diesem Winkel konnte sie gerade noch sehen, wie die Massen in ihren grauen Hosen durchs Tor marschierten, ein farbloser Menschenfluß, der fügsam in den Olymp der Filmgeschichte strömte.
     
    Die Dreharbeiten endeten gegen acht Uhr abends, aber die Lichter in der Halle erloschen erst nach zehn. Die Komparsen hatten längst ihre fünfzig Mark Gage für den Tag kassiert und waren nach Hause gegangen. Draußen war es stockdunkel, nur an den Wegen zwischen den Atelierhallen
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