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Hex

Titel: Hex
Autoren: Kai Meyer
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einfiel.
    Er nickte verständnisvoll. Immer noch schwamm nur sein Gesicht in der Schwärze, sein Körper stand völlig im Dunkeln. »Wer hat dich eingeführt?«
    »Der kleine Mann«, erwiderte sie, jetzt mit betonter Ruhe. »Er hat seinen Namen nicht genannt.« Das war erbärmlich. Grauenvoll. Sie war sicher, daß spätestens dies der Moment war, in dem er Verdacht schöpfen würde.
    Aber der Mann lächelte noch immer. »Er hat so vieles zu tun, nicht wahr? Dann hat er dir auch nicht gesagt, daß du dich ausziehen mußt. Ist es nicht so?«
    »Allerdings.«
    »Nun, dann sage ich es dir«, erklärte er weihevoll. »Wir müssen rein sein, wenn wir zur Zeremonie erscheinen. Rein im Geiste, rein am Körper. Deshalb bitte ich dich, leg deine Kleider ab.«
    Sie spürte, wie Panik in ihr aufstieg. Nicht, weil sie sich ihrer Blöße schämte. Vielmehr ängstigte sie der Gedanke, sich von ihrer Waffe zu trennen. In ihrer Nacktheit war sie dann doppelt schutzlos.
    Die Augen des Mannes ruhten erwartungsvoll auf ihr. Sie konnte nicht einschätzen, ob er sie nackt sehen wollte oder ob das bevorstehende Ritual zur Eile zwang.
    Mit langsamen Bewegungen, um ihr Zögern zu überspielen, streifte sie ihre Jacke ab. Das Gewicht der Pistole zog den Stoff nach unten. Sie hoffte im stillen, daß der Mann es nicht bemerken würde.
    »Gib sie mir«, bat er, »ich werde sie für dich aufbewahren.«
    Verflucht! Aber was blieb ihr schon übrig? Schweiß brach ihr aus allen Poren. Sie reichte ihm die Jacke, ganz oben am Kragen, damit er nicht mit der Waffe in Berührung kam.
    »Ganz schön schwer«, meinte er.
    Sie tat verlegen. »Was eine Dame so alles braucht.«
    Er seufzte. »Du wirst noch lernen, daß all das ohne Wert ist.«
    Sina nickte. Jetzt das Kleid. Sie streifte es über die Schultern und spürte, wie ihre Brustwarzen sich in der Kälte versteiften.
    Ein Gedanke schoß ihr durch den Kopf. Was, wenn man sie erwartete? Wenn all das nur dem Zweck diente, sie nicht nur zu entwaffnen, sondern auch zu demütigen? Sie stellte sich vor, wie sie nackt hinter die Kulissen trat und alle anderen sie erwarteten – vollständig bekleidet.
    Aber, nein. Sie mußte solche Ängste ablegen.
    Kurz darauf war sie auch aus der Unterwäsche geschlüpft und stand nun splitternackt vor dem Mann im Schatten. Entgegen ihrer Befürchtung blickte er nur starr in ihre Augen.
    »Rechts an den vorderen Kulissen vorbei«, wies er ihr den Weg, »auf der anderen Seite der großen Dekoration. Es geht gleich los.«
    Sie dankte ihm mit verkrampfter Freundlichkeit und entfernte sich in die angegebene Richtung. Ein eigenartiger Geruch dampfte ihr entgegen, wie von exotischem Räucherwerk. Sie spürte die kühlen Dielen des Hallenbodens unter den Füßen, hatte aber nur Augen für die Kulisse, die sich finster vor ihr erhob. Es war eine gewaltige Freitreppe, die größte, die sie je gesehen hatte, Dutzende von Stufen hoch und mindestens fünfundzwanzig Meter breit. Sie endete an einem großen Tor. Die Holzstufen sahen mitgenommen aus. Augenscheinlich hatte der Regisseur seine Kahlkopf-Armee zigmal die Treppe hinauf- und hinunterstürmen lassen.
    Sina hielt sich rechts, ging an der Treppe vorbei und folgte dem Lichtschein zur Rückseite der Dekoration. Die Treppe war zur Seite hin offen, und Sinas Blick fiel auf das verschachtelte Gerüst aus Eisenstangen, das sie hielt. Dahinter verlief ein schmaler Gang, der auf der anderen Seite von einer hohen Holzwand begrenzt wurde, dem Rücken einer weiteren Kulisse.
    Der fremdartige Geruch wurde stärker. Süß und schwer hingen die Schwaden in der Luft. Sie kam an mehreren Tischen und Ablagen vorbei, die mit Schminkzeug, zerknüllten Kostümen und allerlei Kleinkram bedeckt waren, Dingen, die die Filmleute bei Feierabend achtlos zur Seite gelegt hatten.
    Sie umrundete die Holzwand in weitem Bogen und gelangte auf die andere Seite. Plötzlich befand sie sich inmitten einer stimmungsvollen Szenerie aus falschen Katakomben. Ein Halbrund von schmalen Terrassen aus Gips und Papier wuchs vor ihr empor, durchlöchert von Höhleneingängen und grobgehauenen Fenstern. Im Vordergrund führte eine Treppe, begrenzt von wuchtigen Steinquadern, zu einem kerzengesäumten Altar. Dahinter, zwischen Altar und Felsterrassen, erhoben sich drei mächtige Kreuze, acht oder neun Meter hoch.
    Drei Dutzend Männer und Frauen, alle nackt, standen am Fuß der Treppe und schauten ehrfurchtsvoll zum Altar empor. Die Kreuze wurden von unten beleuchtet, von der
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