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Hex

Titel: Hex
Autoren: Kai Meyer
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folgten den Wegweisern. Darauf stand in handgemalten Lettern der Titel der Produktion, für die sie eingeteilt waren.
    »Ich habe ganz klare Anweisungen, Mädchen«, sagte der Wächter und warf knappe Blicke auf die geschorenen Schädel der nächsten Männer und Frauen in der Reihe. Sina war zur Seite getreten und stand nun neben ihm. Sie überragte ihn um einen halben Kopf. Sanft ergriff sie seine Hand.
    Er sah aus, als wollte er sie empört zurückziehen. Dann aber spürte er die Scheine, die sie ihm zwischen die Finger drückte.
    »Bitte«, hauchte sie ihm ins Ohr.
    Er überlegte einen Augenblick. »Na, lauf schon«, zischte er dann und ließ das Geld in seiner Hosentasche verschwinden. Keiner der anderen hatte etwas bemerkt.
    Sina zwang sich zu einem letzten Lächeln, dann trat sie durchs Tor – bewußt langsam, mit betonten, fast gekünstelten Schritten. Sie wußte genau, daß er ihr jetzt auf den Hintern starrte.
    Sekunden später bereute sie bereits ihren Auftritt. Alles hing davon ab, daß sie unauffällig blieb. Und sie hatte wieder einmal nichts Besseres zu tun, als einem Mistkerl feuchte Träume zu bescheren.
    Liebe Gewohnheiten, dachte sie zynisch. Bist schon ein Schätzchen.
    Sie sah jetzt einen der Wegweiser aus der Nähe. Metropolis stand in handgemalten schwarzen Lettern darauf. Die spitze Seite wies entlang eines asphaltierten Weges zwischen zwei Studiohallen hindurch. In einiger Entfernung liefen Sina Dutzende von Komparsen voraus.
    Seit Monaten waren die Zeitungen voll von den Statistiken der Materialschlacht, die die Ufa in ihren Studios in Neubabelsberg veranstaltete. Obgleich Sina sich nicht besonders dafür interessierte, gab es niemanden in ganz Berlin, an dem die pompöse Werbemaschinerie der Produktionsgesellschaft vorüberzog. 36000 Komparsen waren für diesen einen Film eingeplant, darunter Hunderte von Kindern und Farbigen. Die Gesamtkosten näherten sich der Fünf-Millionen-Grenze, ein bislang unerhörter Aufwand. Die Dreharbeiten liefen bereits seit einem Jahr, seit Mai ’25, und keine Woche verging, in der Schwarzseher nicht den Untergang der Ufa über dieses Mammutprojekt prophezeiten.
    Sina war das gleichgültig. Sie hatte beileibe andere Sorgen. Die größte war, wie es ihr gelingen sollte, sich auf dem Gelände zu verstecken – eine andere, was sie tun würde, wenn man ihre Pistole entdeckte.
    Ein Lastwagen rollte im Schrittempo an ihr vorüber. Auf der Ladefläche lag ein Berg grauer Kleidungsstücke, die aussahen wie Sträflingsuniformen.
    Sie hatte eigentlich vorgehabt, ihre Rolle als Komparsin bis zum Abend in aller Konsequenz zu spielen. Ihr Haar machte das nun unmöglich. Sie mußte eine andere Möglichkeit finden, die Kulissen zu erforschen und den Ort der Zusammenkunft ausfindig zu machen.
    Vorerst aber blieb sie auf dem Weg zum Drehort. Viel Mühe wäre ihr erspart geblieben – und dem Hex eine Menge Geld –, hätte sie früher gewußt, daß ausgerechnet dies der Ort für das große Finale war. Sie hätte sich einige Wochen im voraus in die Komparsenlisten einschreiben können, und es hätte nicht die geringsten Probleme gegeben. Mußte man natürlich unbedingt ein paar Tage vorher ins Statistenheer der Ufa aufgenommen werden, sah die Sache ganz anders aus. Die Listen waren längst mehrere Meter lang, und die Geschäftsführung hatte einen absoluten Einstellungsstopp verhängt.
    Bis hierhin zumindest hatte Sina es geschafft. Sie trug ein schwarzes, knielanges Kleid aus Kunstseide und Chiffon, mit weiten Ärmeln und engem Ausschnitt, darüber eine leichte Jacke. Ihre Waffe steckte in der Innentasche. Eine Hose wäre ihr lieber gewesen, aber das wäre zu auffällig gewesen. So hatte sie ein Kleid gewählt, dessen Saum weit genug war, um darin rennen zu können, falls es nötig sein würde. Aus dem gleichen Grund trug sie statt der passenden Pumps ein Paar schlichter Leinenschuhe. Unter den mausgrauen Arbeiterinnen und Arbeitslosen, aus denen sich das übrige Komparsenheer rekrutierte, stach sie trotzdem hervor wie ein Paradiesvogel.
    Sie mußte so schnell wie möglich untertauchen. Wenn nicht zwischen den Menschen vor der Kamera, dann eben unter jenen, die dahinterstanden. Dort bestand freilich die Gefahr, daß jeder jeden kannte. Aber ihr blieb keine Wahl.
    Die riesige Halle, in der die Metropolis -Kulissen errichtet worden waren, lag jetzt vor ihr, ein hoher, schlichter Bau mit riesigen Eisentoren. Davor wimmelte es nur so von Menschen, die der Regisseur Fritz Lang
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