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Hex

Titel: Hex
Autoren: Kai Meyer
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Wand des Flurs.
    Noch einmal sah Eisenstein sich um. Grellweißes Licht strahlte aus dem Loch in der Tür herauf, wie von starken Scheinwerfern. Kälte wehte empor. Auf dem Boden, gleich unterhalb der Tür, schwamm eine rotbraune Pfütze. Zähe Fäden tropften von der Wand und der Decke.
    Eisenstein schrie auf. Es war gleichgültig, ob man ihn hörte. Er mußte schreien, mußte seinem Entsetzen Luft machen. Vor ihm am Boden glänzte etwas, gleich an der Schwelle des Foyers. Sein Fuß rutschte nach hinten, er ruderte mit den Armen, versuchte vergeblich, sich an den Wänden abzustützen. Dann fiel er. Krachte auf den Stein, prallte auf den Rücken, dann auf den Hinterkopf.
    Schmerz und Schwärze. Benommenheit.
    Als er die Augen aufschlug, blendete ihn gleißende Helligkeit. Er lag noch immer am Boden, natürlich. Er war nur wenige Sekunden ohne Bewußtsein gewesen. Licht, heller als alles, was er zuvor gesehen hatte, erfüllte sein Blickfeld. Die Strahlen stachen durch seine Augen direkt in sein Denken, nahmen seinen Geist mit auf eine Reise. Direkt in einen Traum.
    Denn Träume waren es, die sie den Menschen gebracht hatten. Sie hatten sie angesteckt, vor Jahrtausenden. Wie mit einer Grippe, ganz beiläufig. Mit etwas, das es vorher nicht auf dieser Welt gegeben hatte. Sie waren gekommen und hatten ihre Seuche mitgebracht, so wie die alten Seefahrer ihre Syphilis auf den Inselparadiesen eingeschleppt hatten. Und die Menschen fanden ein Wort für die neue Epidemie. Träumen.
    Eisenstein war es, als versinke der Boden unter ihm in der Tiefe. Etwas schälte sich aus dem Licht. Er sah etwas, ganz allmählich nur. Eine Landschaft. Eine endlose Fläche aus grauem Sand, darüber ein pechschwarzer Himmel.
    Und vor ihm, inmitten der Staubwüste: Abdrücke nackter Füße.
    Menschliche Fußspuren auf dem Mond.

Erster Teil
    Die Kinder schreien

Kapitel 1
    Sechs Jahre später – Berlin 1926
     
    Der Tag hatte nicht schlecht begonnen, aber er nahm eine deutliche Wendung zum Unangenehmen, als der Mann am Einlaß von ihr wissen wollte, warum sie keine Glatze habe. Als Sina ihn befremdet bat, seine Frage zu wiederholen, sagte er: »Heute nur Kahlköpfe!« Und damit schien die Sache für ihn erledigt.
    Sina sah sprachlos zu, wie er sich an den nächsten in der Schlange wandte. Der Mann hinter ihr zog seine Wollkappe vom Kopf und entblößte einen rasierten Schädel. Und da fiel ihr zum ersten Mal auf, daß nahezu alle der Männer und Frauen in der endlosen Reihe Mützen, Hüte und Kopftücher trugen. Alle, nur sie nicht.
    »Entschuldigen Sie«, sagte Sina, als sie ihre Stimme wiederfand, »aber ich habe einen Ausweis. Hier, sehen Sie.«
    Der Torwächter warf kaum einen Blick darauf. »Dir hängen die Haare doch nicht über die Ohren, Mädchen, oder?« fragte er barsch und winkte dabei den Mann hinter ihr durchs Tor. »Ich hab’ doch gesagt, heute kommen hier nur Leute mit Glatzkopf rein. Von Haaren steht nichts in meinen Vorschriften. Nicht mal von kurzen.«
    »Ihren... Vorschriften?« Sie konnte es noch immer nicht glauben.
    »Jawohl.«
    »Aber mein Ausweis...«
    Er unterbrach sie, diesmal eine Spur schärfer. »Deinen Ausweis kannste vergessen, Mädchen. Mit Haaren kommste nicht zum Film. Wenigstens nicht heute.«
    Sie hatte vier Tage gebraucht, ehe man sie ins Komparsen-Verzeichnis aufgenommen hatte, und es hatte erhebliche Bestechungssummen gekostet, bis man zustimmte, sie ausgerechnet heute anzufordern. Von Kahlköpfen hatte ihr niemand etwas gesagt.
    »Du stehst im Weg, Mädchen«, fuhr sie der Torwächter an. »Hör zu, am Ende der Stahnsdorfer Straße ist ein kleiner Friseurladen. Laß dir die Haare runtersäbeln, dann kannste von mir aus wiederkommen.« Mit anzüglichem Grinsen fügte er hinzu: »Viele sind’s ja sowieso nicht mehr, nicht wahr, meine Kleine?«
    Mädchen konnte sie gerade noch ignorieren, aber meine Kleine machte sie wirklich wütend. Und mehr noch die Anspielung auf ihren modischen Kurzhaarschnitt. Die Männerwelt tat sich immer noch schwer damit.
    Sina holte tief Luft und setzte ihr süßlichstes Lächeln auf. Ehe der Mann sich versah, zupften ihre Finger zärtlich seine Kragenspitzen zurecht. »Nun seien Sie nicht so ein Ekel. Ich hab’ doch einen Ausweis, oder? In irgendeine Ecke wird man mich schon stellen können.«
    Der Torwächter löste sich unsicher von ihr, halb unbehaglich, halb geschmeichelt, und winkte die nächsten Komparsen durch die Absperrung. Eilig stürmten sie aufs Studiogelände und
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