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Hex

Titel: Hex
Autoren: Kai Meyer
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einzigen Lichtquelle in der gesamten Kulisse. Nicht einmal die Kerzen waren entzündet worden. Niemand achtete auf Sina, als sie sich der schweigenden Menge anschloß.
    Unter den Versammelten waren Fette und Spindeldürre, Alte wie Junge, solche, die wahrscheinlich Industrielle mit ihren Gattinnen waren, und andere, die Schauspieler oder Modelle sein mochten. Was den einen an Schönheit fehlte, machten sie durch Reichtum und Spenden wett; jene, die nur wenig besaßen, boten ihre Körper der Gemeinschaft dar. Sina hatte sich lange genug mit Gruppen wie dieser beschäftigt, um ihre Gesetzmäßigkeiten zu kennen.
    Die Gesichter der Anwesenden zuckten vor Erregung. Sie alle erwarteten die Ankunft ihres Oberhauptes. Blanke, schwitzende Mienen blickten zum Pappmache-Altar empor, als sollte der Heiland persönlich dort erscheinen; und vielleicht war es genau das, was sie erwarteten. Sina ließ ihre Blicke so unauffällig wie möglich über die Männer und Frauen huschen und prägte sich ihre Züge ein. Zu ihrer Enttäuschung war keiner darunter, den sie bereits kannte.
    Bis auf einen.
    Dominik! durchzuckte es sie.
    Das Gesicht eines blonden Mannes in ihrem Alter, Ende Zwanzig, wandte sich ihr zu. Ein Blitzen in seinen Augen, ein verhaltenes Grinsen. Er stand drei Reihen vor ihr, am rechten Rand der Gruppe.
    Was hatte er hier zu suchen?
    Sie war drauf und dran, sich ihm zu nähern, aber er schüttelte unmerklich den Kopf. Und natürlich hatte er recht.
    Es war ihr Auftrag, verflucht noch mal! Sie mochte Dominik, recht gerne sogar, wenn sie ehrlich war. Aber daß er hier auftauchte, machte sie zornig. Sie hatte seine Hilfe nicht nötig.
    Wirklich nicht? Hatte sie nicht eben noch bedauert, daß sie allein hier war? Nackt, unbewaffnet, den Kultisten völlig ausgeliefert? Aber es war etwas anderes, sich Hilfe herbeizuwünschen und sie dann tatsächlich zu bekommen. Das bewies nur einmal mehr, daß der alte Zacharias niemandem traute. Schlimm genug – aber mußte er deshalb von allen Mitarbeitern des Hex ausgerechnet seinen Sohn hierher schicken?
    Sie würde eine Menge Staub in der Abteilung aufwirbeln, eine gehörige Menge – falls sie heil hier herauskam.
    Ein Raunen in der Menge verkündete, daß die Zeremonie ihren Anfang nahm. Hinter den Kreuzen trat der Zwerg hervor, den sie vor der Halle beobachtet hatte. Er trug als einziger ein weites Gewand aus schillerndem Stoff. Darunter zeichnete sich eine Erektion ab.
    Sie hatte es geahnt. Es reichte nicht, daß sie sich in eine Sekte verrückter Geisterbeschwörer eingeschlichen hatte. Es mußte wieder einer jener Kulte sein, denen es ohnehin nur um eines ging. Warum konnten diese Leute nicht einfach ins nächstbeste Hurenhaus gehen? Warum mußte ausgerechnet Sina sich ständig mit ihnen herumschlagen? Hätte sie das vorher gewußt, sie hätte die ganze Sache mit Handkuß an Dominik abgegeben, wenn er denn so wild darauf war.
    Aber Selbstmitleid half ihr nicht weiter. Sie war hergekommen, um zu beobachten, nicht mehr – wenigstens, soweit es sich vermeiden ließ. Keine Sekte sah es gerne, wenn Ungeweihte sie ausspionierten. Es hatte früher schon Tote gegeben, auch aus den Reihen des Hex.
    Sie blickte verstohlen zu Dominik hinüber. Er machte seine Sache gut. Der Fanatismus in seinen Zügen wirkte nicht gekünstelt.
    Der Zwerg auf der Bühne stimmte einen lallenden Singsang an, zweifellos in irgendeiner Phantasiesprache, die er und seine Hintermänner sich bei viel Wein und teurem Whiskey ausgedacht hatten. Die Belohnung mochte den Aufwand rechtfertigen: Sex und wertvolle Spenden.
    Sina hatte kein Mitleid mit jenen, die sich von solchen Betrügern ausnehmen ließen. Wer sich darauf einließ, hatte es in ihren Augen nicht besser verdient. Sie wußte auch, daß der alte Zacharias und einige andere Mitarbeiter des Hex, Dominik eingeschlossen, diesen Aspekt ihrer Aufgabe mit mehr Verständnis betrachteten.
    Sie nicht. Ihr konnte das ganze Pack gestohlen bleiben. Sie hatte andere Motive, dem Treiben der Sektierer Einhalt zu gebieten. Berlin wimmelte seit einigen Jahren nur so von Hochstaplern, die Kulte von beachtlicher Größe ins Leben gerufen hatten.
    Der Zwerg gab einer jungen Frau in der ersten Reihe einen Wink. Sie war zweifellos minderjährig. Lange rote Locken fielen über ihre Schultern. Beim Anblick ihrer Formen widerstand Sina nur mühsam der Versuchung, an sich selbst herabzublicken. Zu dünn! hatte der letzte Mann, mit dem sie sich eingelassen hatte, ihr
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