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Herzhämmern

Titel: Herzhämmern
Autoren: cbt Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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France verlaufen. Bei jeder Sportsendung klebt sie am Fernseher. Bei Wissenschaft schaltet sie ab.
    Ich erklärte ihr, dass die Zentrifugalkraft die Fliehkraft eines um eine Achse gedrehten Körpers nach außen ist. Das hatte ich aus einem Buch meines Vaters. Und kam damit ganz gut über meine Panik hinweg. Zu Hause schaute ich nach, weil ich es genau wissen wollte. Die Zentrifugalkraft wächst mit dem Quadrat der Drehzahl, das war es.
     
     
    Im Innendeckel des Buches steht per Stempel der Name meines Vaters, Martin Radek. Sein Namensstempel gehört zu meinen geheimen Schätzen. Er steckt in einem Etui und sieht aus wie ein gewöhnlicher Kuli, aber wenn man die Kappe abschraubt, kommen die zwei Flügel eines zusammenklappbaren Stempels heraus.
    Ich habe alle Mitschriften, Protokolle und Entwürfe aus acht Semestern Studienzeit gestempelt, die noch nicht gestempelt waren. Eine Klappkiste voller Unterlagen. Ich habe meiner Mutter verboten, sie jemals anzutasten. Sie war nämlich bereits drauf und dran, das alte Zeug, wie sie es nannte, endlich in den Papiercontainer zu stecken. Dabei ist meine Mutter nicht sehr ordentlich; mehr als zehn Jahre hatten die Skripten unter Schuhen und alten Klamotten auf dem Boden ihres Kleiderschranks gelegen. Ein Glück, dass ich dazugekommen bin, als sie ausmistete.
    Die Sporturkunden meines Vaters sind nicht mit dabei gewesen, denn die hängen seit jeher an allen Wänden unserer Wohnung. Mein Vater und meine Mutter haben sich beim Freeclimbing kennengelernt. Vielleicht an einer Felswand wie dieser da drüben.
     
    Meine Knie haben sich beruhigt. Ich schwinge mich auf einen Ast und äuge durch das Blättergewirr hinüber. Den unteren Teil der Wand kann ich sehen. Überhaupt macht es mir nichts aus, eine Felswand direkt von vorn anzuschauen. Nur oben stehen möchte ich nicht. Schon von der Vorstellung zittern mir die Beine. Oder von unten nach oben gucken und mir ausmalen, wo ich die Finger- und Fußspitzen setzen müsste, um hinaufzukommen. In halber Wand hängen und nicht mehr vor und zurück wissen. O Gott. Ohne Seil, ohne alles. Den Abgrund unter mir.
    Es gibt ein Foto von meinem Vater, auf dem er gerade einen Überhang umklettert. Von unten aufgenommen. Eine grausig glatte Wand.
    Das Foto zeige ich Kevin, wenn er noch einen Piep sagt. Der Idiot. Sein Vater ist eine sportliche Null. Wie Brüder nur so unterschiedlich sein können. Martin und Daniel Radek. Keine Ähnlichkeit. Nicht mal äußerlich.
    Von meiner Mutter gibt es kein Foto in der Wand. Obwohl sie sich da kennengelernt haben. Meine Mutter hat jetzt auch keine Zeit mehr für Extremsport. Geldverdienen geht vor, sagt sie, leider. Gott sei Dank, sage ich, aber nur leise, nur so für mich. Ich habe schon Angst um sie, wenn sie Rad fährt. Volle Pulle bergab. Wenn sich da ein Steinchen querlegt … Manchmal denke ich, sie hat keine Fantasie. Gleichzeitig wünsche ich mir, auch so zu sein. Eine Frage des Trainings vielleicht? Wenn ich nur daran glauben könnte.
     
    Die Felswand ist etwa zwanzig Meter von meinem versteckten Sitzplatz entfernt. Ihre obere Hälfte war anfangs noch von der Sonne beschienen, jetzt ist die Sonne hinter einem Hügel verschwunden. Das Licht hat sie hiergelassen, aber den Glanz hat sie mitgenommen. Auf einmal sehe ich, wie düster alles ist, ganz besonders der Fels da drüben.
    Und da, in diesem Moment, kommt aus dem Boden, dort, wo das Gestein in gelbliches Gras übergeht, eine Hand. Erschrocken ziehe ich die Luft ein. Ich verenge die Augen - es ist wirklich und wahrhaftig eine Hand! Eine braune Hand, die sich bewegt; sie tastet auf dem Felsen herum und versucht, sich festzukrallen, aber es gelingt ihr nicht. Jetzt probiert sie es im Gras.
    Die braune Hand ist viel zu groß für eine Menschenhand; sie ist dick und plump und erdig - eine Farbe wie Lehm. Eine Hand, die aus dem Boden wächst, einfach so, und herauswill, mit allem, was nach ihr kommt.
    Ich muss nicht sehen, was genau das ist, ich will nur noch weg und hinunter zur Herberge, zu den anderen, die vielleicht Martina Schlotterbein sagen, aber sonst harmlos sind. Ich will sogar zu Kevin. Zitternd rutsche ich vom Ast. Hoffentlich tragen mich meine Beine, ich muss nämlich erst mal zur Felswand. Laufe ich in die andere Richtung, dann schneidet mir das Monster den Weg ab.
    Zwei Schlotterschritte - und ich fahre zurück, tief in die schützenden Blätter hinein. Zum Arm gehört nämlich plötzlich ein Kopf. Erdfarben, mit wirren lehmbraunen Zotteln
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