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Herzhämmern

Titel: Herzhämmern
Autoren: cbt Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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da ich keine Lust habe, Kevin und die anderen zu sehen, folge ich ihm. Die Sonne steht tief, sie blendet. Ich wünsche mir, dass sie heute nicht untergeht. Sie soll genau so stehen bleiben und leuchten und wärmen, dann marschiere ich immer weiter. Dann habe ich auch keine Angst. Wo Sonne ist und wo Bäume sind und trockenes Laub, fürchte ich mich nicht.
    Auf der Rückseite des Felsens ist eine Wiese und mittendrin steht eine Esche. Sie ist kugelförmig gewachsen und hat Äste bis zum Boden. Ein Kletterbaum. Wenn ich mutig wäre, könnte ich bis in die Spitze klettern. Die Jungs würden es vielleicht tun, aber ich werde mich hüten, ihnen den Baum zu zeigen.
    Er hat noch fast kein Laub abgeworfen, weil die Felswand ihn gegen den Wind schützt. Ein richtiger Bilderbuchbaum. So könnte er im Wald niemals wachsen, so breit und rund, er wäre eingeengt und würde nur nach oben streben. Das habe ich nicht aus den Unterlagen meines Vaters, ich habe es durch Hinsehen und Vergleichen gelernt. Die Unterlagen meines Vaters enthalten viel kompliziertere Dinge, von denen ich eigentlich nichts verstehe. Eine Menge Formeln, die ich aber eines Tages begreifen werde, wenn ich Biologie studiere.
    Ich zwänge mich durch die tief hängenden Äste hindurch bis zum Stamm und schaue hinauf. Der Baum wird nach oben zu licht und in der Kronenspitze fehlen die Blätter schon ganz. Ich könnte bestimmt ohne Mühe hochsteigen und hätte dann über eine Schonung hinweg einen Blick auf das Tal und vielleicht sogar direkt auf die Herberge. Probeweise setze ich den Fuß in eine Astgabel und ziehe mich hinauf. Es klappt. Und noch eine Astgabel kommt mir gelegen. Eigentlich muss ich mich nur mit den Ellenbogen von Ast zu Ast stemmen, einen Fuß aufsetzen, den anderen nachziehen.
    Ein dürrer Zweig kratzt mir übers Gesicht und verfängt sich in meinen Haaren. Ich versuche, mich zu befreien und mir dabei möglichst keine Haare auszureißen. Da fällt mein Blick zufällig nach unten und - der Boden ist weg, er ist auch mit gestreckten Beinen niemals mehr zu erreichen. Mir wird schwindlig. Jetzt entfernt sich der Boden weiter, obwohl ich mich nur noch festklammere. Es ist wie in der Beschleunigungstrommel auf dem Rummelplatz, wo ich mit meiner Mutter in den Sommerferien war. Ich reiße die Augen auf und folge dem Boden, ich umklammere jeden Ast, der mir entgegenkommt; auf die Beine ist wieder einmal kein Verlass, sie schlottern. Sie schlottern sich hinab, bis sie unter dem Baum einknicken.
    Mühsam richte ich mich auf, dann lehne ich schwer atmend am Stamm. Der Kopf tut mir weh, ich fasse hin. Der dürre Zweig ist verschwunden, bestimmt hat er mir einen Schwung Haare ausgerissen. Sie hängen jetzt oben, ein rotes Büschel, weil ich wieder einmal die Panik gekriegt habe. Ich bin nicht normal, so viel steht fest, und Kevin hat mir treffsicher den richtigen Namen verpasst. Zornig drücke ich auf meine Schlotterknie, damit sie endlich Ruhe geben.
    Ausgerechnet jetzt fällt mir auch noch ein Spruch meiner Mutter ein. Hast du denn gar nichts von deinem Vater … Wie ich das hasse! Um es einmal nicht hören zu müssen, bin ich auf dem Rummel mit ihr in diese Trommel gestiegen. Wie im All, stand auf dem Plakat, erleben Sie die Schwerelosigkeit! Aber es war alles Schwindel. Von wegen Schwerelosigkeit. Reine Fliehkraft, nichts weiter. Die Trommel wurde auf eine wahnsinnige Umdrehung gebracht, sodass es einem den Rücken an die Wand presste und die Wangen zur Seite zog. Aber geschrien habe ich erst, als sich der Boden entfernte. Der wich einfach nach unten weg und ließ uns an der Wand kleben. Ich brüllte. Wie die anderen spreizte ich Arme und Beine und drückte mich mit allem fest, was ich hatte. Trotzdem spürte ich, wie ich unaufhaltsam an der Wand nach unten glitt. Schwerelosigkeit, ha! Elendig schwer war ich. Ich brüllte wie eine Irre. Aber auf dem Rummel ist das nichts Besonderes, da brüllen viele. Wenn sie zu brüllen aufhören, lachen sie.
    Lachen konnte ich nicht.
    »Hat das nicht Spaß gemacht?«, wollte meine Mutter wissen.
    »Schwindel!«, sagte ich wütend. »Alles Schwindel! Das war doch nur Zentrifugalkraft! Überhaupt keine Schwerelosigkeit!«
    »Dass du immer alles wörtlich nehmen musst«, maulte sie. »Und woher willst du das überhaupt wissen.«
    Von Zentrifugalkraft hat sie keine Ahnung. Dafür weiß sie, wer in welchem Tennisturnier gewonnen hat und wo der Weltrekord im Hochsprung zurzeit steht und wie die einzelnen Etappen der Tour de
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