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Das Karpaten-Projekt

Das Karpaten-Projekt

Titel: Das Karpaten-Projekt
Autoren: Werner Schmitz
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    Mit der Dämmerung dringt der Duft in den Wald. Die Abendbrise
bläst ihn bergan. Buchenblätter tuscheln über saftige Melonen, Gräser wispern
von saurer Milch, Brombeerranken umschlingen einen Fetzen Fischdunst. Die
dösende Bärin hebt nicht einmal den Kopf. Nur ihre fleischige Hundsnase saugt
den Geruch auf, zerlegt ihn in seine Bestandteile und gibt ihn seufzend wieder
frei. Ein Speichelfaden rinnt aus den Lefzen der Bärin ins vorjährige Laub.
Schmatzend schluckt sie ihre Gier.

    Noch ist es nicht dunkel genug. Noch schlafen ihre
Zwillinge, maunzen im Traum und zucken mit den Tatzen, wie wenn sie jetzt die
Rötelmäuse fingen, die ihnen morgens entwischt waren. Unter der Buchenwurzel
hatte die Bärin das Nagernest ausgegraben. Wie Wassertropfen spritzten die
Mäuse auseinander, viel zu schnell für die Patschpfoten der kleinen Bären. Nur
sie selbst hatte eine erwischt. Das Klümpchen blutigen Breis spuckte sie den
Jungen hin. Natürlich war wieder das Weibchen schneller, schnappte seinem
Bruder den Happen vor der Nase weg.

    Zum Sattwerden reichte das Mäuschen genauso wenig wie das
Maul voll Himbeeren, das sie mittags auf der Lichtung naschten, und die Asseln
unter dem umgedrehten Stein. Mühsam war das Fressen im Wald, weite Wege, wenig
Wert. Kein Vergleich mit dem nächtlichen Schlemmen am Fuße des Hangs.
Fruchtglibber fand sich dort, süßer als Honig. Brei, der nach Mais schmeckte.
Knochen, deren Mark die Bärin lutschte. Alles ohne lästige Lauferei. Direkt vor
ihrer Nase an den Waldsaum gekippt.

    Die Bärin war dem Abfall erlegen. Widerstrebend zuerst,
weil über allem der Geruch der Gefahr waberte, Ausdunst der Zweibeiner, die ins
Bärental eingedrungen waren, Geruch des einzigen Feindes, den sie fürchtete.
Dass ihre Pranken einen Mann mit einem Schlag töten konnten, wusste die Bärin noch
nicht. Ihre Mutter hatte sie gelehrt, Menschen aus dem Wege zu gehen, damals
auf den Almen unter den weißen Bergen. Wo sie im Frühjahr von den Wurzeln des
Bärenklaus lebten und im Herbst von Baumfrüchten und Beeren. Nur im Sommer,
wenn die Bergwiesen von Tieren wimmelten, stahlen sie ab und an ein Schaf oder
gar einen Esel.

    Am Ende der Kindheit hatte die Alte sie fortgejagt, vertrieben
aus dem Paradies im Gebirge. Wochenlang stromerte sie allein durch die Gegend,
herumgeschubst von den erwachsenen Bären, denen sie begegnete, hungrig wie noch
nie in ihrem Leben. Bis sie weit unten im Tal diesen Buchenwald fand, der nach
Himmel und Hölle zugleich roch. Nach zwei durchhungerten Tagen, den Duft des
Fraßes ständig in der Nase, überwand die junge Bärin ihre Angst. In der Dunkelheit
schlich sie zum Menschenmüll. Die anderen taten es ja auch. Drei Dutzend Bären
lungerten im Hang über den Häusern. Mürrische Männchen, die die Fangzähne
fletschten, wenn man ihnen zu nahe kam. Halbstarke Geschwister, Mütter mit zwei,
drei oder gar vier Jungen. Der Abfall machte alle satt.

    Langsam kommt Leben in die kleinen Bären. Aus
Schweinsäugelchen blinzeln sie in die hereinbrechende Nacht. Ihre Nasen pflügen
das Fell der Bärin, finden am Brustkorb die Zitzen der Mutter, saugen selbstvergessen.
Die Bärin brummt zufrieden. Vor sechs Monaten hat sie die Kleinen geboren.
Mitten im Winter, in der selbst gegrabenen Höhle unter dem Wurzelteller einer
umgeworfenen Fichte. Winzige Wesen, die im Dunkeln schliefen und tranken und
wuchsen, bis der Schnee schmolz und der Frühlingswind ihnen den Höhlenmief aus
dem Fell blies.

    Seitdem streift sie mit ihnen umher. Durchkämmt tagsüber
die Hügel auf der Suche nach Fressbarem und landet abends doch wieder beim
Müll, der sie satt macht und ihre Milch fettig. Irgendwann im Frühsommer hat
sie eine Tonne umgeworfen, damit die Jungen auch davon fressen konnten.

    Als es dunkel genug ist, setzt sich die Bärin auf und
hält die Nase in den Wind. Deutlicher dringt jetzt der Duft durch das Dickicht.
Hangaufwärts hört sie es knacken. Der alte Griesgram, der dort haust, ist auch
schon auf den Pranken. Die Bärin stützt sich auf die Vordertatzen, schüttelt
das Laub aus dem Pelz. Schnaufend setzt sie sich in Bewegung, durch den Tunnel,
den ihr Kommen und Gehen in den Jungwuchs gebohrt hat. Am Rande der Dickung, wo
der Hochwald beginnt, verharrt die Bärin. Als ob es noch ein Zurück gäbe. Wie
wenn sie nicht längst süchtig wäre nach dem Zeug da unten.

    Verschwommen sieht die Bärin die Lichter der Menschen im
Tal. Sie hört die Stimmen der Zweibeiner und trabt
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