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Herzbesetzer (German Edition)

Herzbesetzer (German Edition)

Titel: Herzbesetzer (German Edition)
Autoren: T.A. Wegberg
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hinterherrennst! Na, hast du ihn fein getröstet? Hast du ihm bestätigt, was für ein armes, unverstandenes Unschuldslämmchen er ist? Ach, übrigens, lernt er diese Ausdrücke von dir?«
    Darauf gäbe es bestimmt eine ganze Reihe passender Antworten, um die ich im Normalfall nicht verlegen bin. Ich werde furchtbar zynisch, ätzend und herablassend, wenn man mich angreift.
    Das Blöde ist nur: Das ist meine Mutter. Und ich bin ein verzweifelter, trauriger, schmerzerfüllter kleiner Junge, dem es die Sprache verschlagen hat. Ich kann sie genau hören, diese Kinderstimme, die wimmert: Mama, bitte hab mich wieder lieb, bitte nimm mich in die Arme, bitte verzeih mir. Von meinem erwachsenen Ich ist nichts mehr übrig. Das ist ebenso quälend wie peinlich, weil jetzt alle verstummt sind und mich anstarren und ich nicht in der Lage bin, mich angemessen zu verteidigen. Ich hasse es, so schwach zu sein und dabei auch noch Zuschauer zu haben.
    »Ich hab ihn nur zurückgeholt«, sagt der kleine Junge, »er ist oben in seinem Zimmer …« Statt hier mal so richtig den Hammer kreisen zu lassen.
    In Judiths Augen steht der blanke Horror, und bei Una habe ich wohl auf Lebenszeit alle Autorität verspielt. Sie lernen gerade Klein Juli kennen, vier Jahre alt, der ausgeschimpft wird, weil er ins Bett gepullert hat. (Was ich übrigens ziemlich oft gemacht habe, allerdings nur bis Benjamin so ungefähr zwei war. Danach habe ich meistens bei ihm geschlafen oder er bei mir, obwohl jeder sein eigenes Zimmer hatte, und die Bettnässerei hörte schlagartig auf.) Judith erhebt sich von ihrem Platz, ohne den Blick von mir abzuwenden, kommt langsam auf mich zu und schließt mich ganz fest in die Arme. Oh – das tut gut! Das tut echt gut! Ich schließe die Augen, lege den Kopf auf ihre Schulter und lasse mich halten. Meine Mutter hackt daraufhin wieder auf meinem Vater rum, aber das berührt mich jetzt nicht mehr so sehr; ich lade meinen Akku auf und fühle mich zunehmend besser.
    Der Tag ist verdorben, da hilft es auch nicht viel, dass sich irgendwann alle wieder zusammenreißen, dass es halbherzige Entschuldigungen sowohl meiner Mutter als auch Anokis gibt und dass wir gemeinsam wie eine glückliche Familie bei Tante Anette zu Mittag essen. Ein Großteil meiner Verwandten taucht ebenfalls dort auf – zum Essen, zum Kaffee danach oder einfach so –, und ich beobachte mit teuflischem Triumph, dass Anokis Bühnenerfolg weitaus mehr Aufsehen erregt als das unverhoffte Erscheinen meiner Mutter. Mein begnadeter kleiner Zweitbruder wird mindestens so frenetisch gefeiert wie Judith und ich bei der Verlobungsparty. Ich schaue ihn an und sehe ein stilles Leuchten, ein balsamisches Glück nach heftigstem Schmerz, an das er noch nicht ganz glauben kann, obwohl er sich so sehr danach gesehnt hat. Dann sehe ich meine Mutter an und entdecke nicht etwa Hass und Eifersucht, sondern tiefe, hoffnungslose Traurigkeit. Ich weiß, es ist schwer zu begreifen, aber sie tut mir leid. Sie hat so viel verloren – nicht nur ihren Sohn, sondern auch ihre Fähigkeit zu lieben. Es ist nicht ihre Schuld, dass wir – mein Vater, Anoki und ich – darunter leiden müssen. Ich setze mich neben sie auf das Sofa, und nach kurzem Zögern nehme ich ihre Hand, die sich wie ein totes Tier anfühlt, ehe sie sie mir bedächtig wieder entzieht.

 
 
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    »So schlimm hab ich mir das nicht vorgestellt«, sagt Judith, während sie vor ihrem Backofen in die Hocke geht, um durch das Sichtfenster einen Blick auf den Kuchen zu werfen. »Deine Familie ist ja regelrecht zerbrochen. Meine Güte. Du armer Schatz.« Sie steht wieder auf und nimmt mich abermals in den Arm, etwas, das sie seit unserem jüngsten Aufenthalt in Neuruppin fast pausenlos tut. Ich gebe zu, ich genieße es. Judith ersetzt mir eine Menge dessen, was meine Mutter mir vorenthalten hat. Vermutlich muss ich aufpassen, dass ich nicht irgendwann Mama zu ihr sage.
    »Ich meine, du hast mir das ja alles schon beschrieben«, fährt sie fort, während ich mich behaglich an sie kuschle, »aber jetzt, wo ich deine Mutter kennengelernt hab … puh. Da hast du echt noch untertrieben.«
    Durchaus möglich. Trotz allem verspüre ich nämlich immer noch diese unsinnige Loyalität zu meinen Eltern, und wenn ich überhaupt von ihnen rede, dann mit aufgesetztem Weichzeichner. »Ich versteh bloß nicht, warum sie unbedingt Anoki aufnehmen wollten«, grübelt Judith. »Der passt doch da überhaupt nicht hin.«
    »Lass ihn das bloß nicht
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