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Herzbesetzer (German Edition)

Herzbesetzer (German Edition)

Titel: Herzbesetzer (German Edition)
Autoren: T.A. Wegberg
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dafür aber möglicherweise einem bunten Sortiment einheimischer Wildtiere wie Füchsen, Rehen, Waschbären, Hasen, Wildschweinen und weiß der Teufel was für Viehzeug. Ich hatte ein wachsames Auge auf den Straßenrand, damit sich nicht irgendso ein armes Biest überraschend vor meinen Kühler warf. Dabei fiel mir auf, wie ungeheuer müde ich mittlerweile war. So müde, dass meine Augen brannten, tränten und eine unwiderstehliche Tendenz zum Zuklappen aufwiesen. So müde, dass sich alles da draußen langsam spiralförmig zu drehen schien. So müde, dass ich am Steuer meines Autos einschlief und nicht mitkriegte, wie es die Fahrbahn verließ und auf eine Kopfweide zuschoss.
    Als ich wieder aufwachte, hatte ich vier Tage meines Lebens und meinen kleinen Bruder verloren.

1
    »Deine Mutter hat sich mit dem Essen viel Mühe gegeben, Julian«, sagt mein Vater zu mir, »du könntest ihr wenigstens ein bisschen Respekt erweisen, indem du aufhörst, darin rumzustochern.« Woah, ich hasse dieses Todestag-Ritual. Ich finde es unerträglich, pervers und demütigend, aber meine Eltern bestehen darauf. Jedes Jahr am 23. Oktober muss ich zum Essen kommen, und dann steht Benjamins Taufkerze feierlich brennend auf dem Tisch, und meine Mutter hat irgendwas Besonderes gekocht – meist eins von Bennis Lieblingsgerichten, heute Jägerschnitzel mit Pommes frites und Gurkensalat –, und sie zwingen mich zum Essen, obwohl ich am liebsten genau das Gegenteil täte.
    Ziemlich bald fängt meine Mutter an zu weinen, schnappt sich eine der gerahmten Fotografien meines Bruders, die überall in diesem Haus verfügbar sind, lässt ihre Tränen darauf tropfen und fängt an, irgendeine rührselige Erinnerung zum Besten zu geben. Warum nehmen sie sich nicht einfach jeder einen Knüppel, schlagen damit auf mich ein und schreien »Mörder, Mörder«? Ja, ich habe meinen Bruder umgebracht. Ich war gewissenlos, leichtsinnig, dumm, ich habe mich überschätzt, ich habe alle Regeln missachtet, ich bin ein Brudermörder. Das ist mein Schicksal, damit lebe ich heute seit genau fünf Jahren, na ja, was man so leben nennt, und ich habe gelernt, diese Tatsache gelegentlich für mehr als drei Minuten aus meinem Bewusstsein auszublenden.
    Aber was soll diese Foltershow? Warum zwingen sie mich Jahr für Jahr, diesen gnadenlosen Schmerz und dieses unmenschliche Schuldgefühl auf die Spitze zu treiben? Warum quält meine Mutter mich mit diesen Tränen, warum peinigt mein Vater mich mit diesem hoffnungslosen, leeren Blick? Ich bin doch auch ihr Sohn, ich lebe noch – warum können sie nicht mehr lachen, seit Benjamin tot ist? Es gibt Augenblicke, da entwickle ich einen regelrechten Hass auf Benni, Hass und giftigste Eifersucht, weil er für immer der Wichtigste, der Beste, der Geliebteste, das Opfer sein wird. Während ich nur der erbärmliche Mörder bin. Ich schneide ein kleines Stück Fleisch ab und zwinge mich, es runterzuschlucken, wie eine Buße. Ich habe Benni geliebt, sehr sogar, er war der einzige Mensch, der mich jederzeit zum Lachen bringen konnte, und ich vermisse ihn genauso wie meine Eltern. Aber ich habe kein Recht auf meine Trauer, weil ich die Schuld trage.
    »Am Dienstag hab ich einen Termin beim Jugendamt«, sagt meine Mutter, nachdem sie sich die Nase geputzt hat. Ich sehe sie verständnislos an und registriere nebenbei, dass mein Vater irgendwie unbehaglich zur Seite guckt.
    »Wieso das denn?«, frage ich.
    Meine Mutter lächelt unter Tränen, ganz schwach, aber immerhin, und mein Vater sagt mit einem unterdrückten Seufzen: »Wir wollen vielleicht ein Pflegekind aufnehmen.«
    Ich starre die beiden an. Soll das ein Witz sein? Aber sie würden doch an Benjamins Todestag keine blöden Scherze machen. »Wie, ein Pflegekind«, sage ich verständnislos, »was denn für ein Pflegekind?«
    »Also, ich kann dieses leere große Haus einfach nicht ertragen«, erklärt meine Mutter. »Wir sind ja schließlich noch keine alten Leute.«
    Das stimmt; sie ist sechsundvierzig, mein Vater zwei Jahre älter, beide stehen voll im Berufsleben, haben einen Freundeskreis und ein paar Hobbys – alt ist anders. »Ich möchte wieder Leben hier haben. Was Junges. Ich möchte mal wieder einen Jungen lachen hören …« Dabei entgleisen ihre Mundwinkel, und sie hält sich das Taschentuch vors Gesicht.
    Ich gucke gequält weg.
    »Man tut damit ja auch einem elternlosen Kind was Gutes«, springt mein Vater ein. Hört sich an wie auswendig gelernt.
    »Ihr wollt wirklich
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