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Herz der Finsternis

Titel: Herz der Finsternis
Autoren: Joseph Conrad
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mich zu beäugen, und verschwanden wieder irgendwo außer Sichtweite. Einer von ihnen, ein untersetzter,
     nervöser Bursche mit schwarzem Schnauzer, unterrichtete mich sehr wortreich und mit vielen Abschweifungen, sobald ich ihm
     gesagt hatte, wer ich war, daß mein Dampfer auf dem Grund des Flusses lag. Ich war wie vom Donner gerührt. Was, wie, weshalb?
     Oh, es sei ›alles in Ordnung‹. Der ›Manager persönlich‹ sei da. ›Alles ganz korrekt.‹ Jeder habe sich bestens verhalten! Bestens!
     ›Sie müssen‹, rief er aufgeregt, ›sofort mit dem General Manager sprechen. Er wartet schon.‹
    Die wahre Bedeutung des Schiffbruchs erkannte ich nicht gleich. Ich glaube, heute weiß ich es – aber sicher bin ich mir nicht
     – überhaupt nicht. Natürlich war die Sache viel zu dumm – wenn ich darüber nachdenke – um ganz normal zu sein. Trotzdem   ... Aber zu jenem Zeitpunkt stellte sich mir |35| das Ganze einfach nur als verdammtes Ärgernis dar. Der Dampfer war gesunken. Vor zwei Tagen waren sie in plötzlicher Hast
     mit dem Manager an Bord flußaufwärts aufgebrochen, unter dem Kommando irgendeines freiwilligen Skippers, und noch bevor sie
     drei Stunden unterwegs waren, rissen sie an ein paar Steinen den Schiffsrumpf auf, und der Dampfer sank nahe dem Südufer.
     Ich fragte mich, was ich dort draußen zu suchen hätte – jetzt, da mein Boot verloren war. Tatsächlich hatte ich mehr als genug
     damit zu tun, mein Kommando aus dem Fluß zu fischen. Ich mußte gleich am nächsten Tag ans Werk gehen. Das und die Reparaturen,
     als ich die Einzelteile zur Station gebracht hatte, dauerten mehrere Monate.
    Mein erstes Gespräch mit dem Manager war merkwürdig. Nach meinem Zwanzig-Meilen-Spaziergang am Morgen bot er mir nicht an,
     mich zu setzen. Alles an ihm war gewöhnlich, die Gesichtsfarbe, die Züge, das Benehmen und die Stimme. Er war mittelgroß und
     von durchschnittlichem Körperbau. Seine Augen, von normalem Blau, waren vielleicht besonders kühl, und der Blick, mit dem
     er einen ansah, konnte durchaus so scharf und schneidend sein wie eine Axt. Doch selbst dann schien sich der Rest seiner Person
     von diesem Vorhaben zu distanzieren. Ansonsten war da nur ein unbestimmter kleiner Ausdruck seiner Lippen, etwas Verstohlenes
     – ein Lächeln – kein Lächeln – ich sehe es noch vor mir, erklären kann ich es nicht. Es war unbewußt, dieses Lächeln, doch
     immer nachdem er etwas gesagt hatte, trat es für einen Augenblick hervor. Es kam am Ende seiner Sätze wie ein Siegel, das
     er den Worten aufdrückte, um die Bedeutung der alltäglichsten Phrase vollkommen unergründlich scheinen zu lassen. Er war ein
     gewöhnlicher Kaufmann, von Jugend an in diesen Breiten tätig – weiter nichts. Man gehorchte ihm, aber er löste weder Liebe
     noch Angst aus, nicht einmal Respekt. Er löste Unbehagen aus. Das war es! Unbehagen. Kein faßbares Mißtrauen – nur |36| Unbehagen – weiter nichts. Ihr habt keine Vorstellung davon, wie wirksam eine solche   ... eine solche Fähigkeit sein kann. Er besaß keine besondere Gabe, etwas zu organisieren, in die Wege zu leiten oder auch
     nur zu ordnen. Das zeigte sich an Dingen wie dem desolaten Zustand der Station. Er war nicht gebildet und nicht intelligent.
     Er hatte seine Position bekommen – weshalb? Vielleicht, weil er nie krank war. Er hatte drei mal drei Jahre hier draußen verbracht.
     Blühende Gesundheit ist an sich schon eine Art Macht, wo rundherum alles kollabiert. Wenn er Heimurlaub hatte, schwelgte er
     in Saus und Braus. Ein Seemann auf Landgang – der Unterschied war rein äußerlich. So viel war dem zu entnehmen, was er beiläufig
     erzählte. Er schuf nichts, sondern hielt die Routine am Laufen – das war alles. Doch er war großartig. Er war großartig wegen
     dieser einen Kleinigkeit, daß es unmöglich zu erraten war, was diesen Mann steuerte. Dieses Geheimnis lüftete er nie. Vielleicht
     war auch gar nichts in ihm. Dieser Verdacht gab einem zu denken – denn dort draußen gab es keine äußerliche Kontrolle. Einmal,
     als verschiedene Tropenkrankheiten fast jeden einzelnen ›Agenten‹ in der Station außer Gefecht gesetzt hatten, hörte man ihn
     sagen: ›Männer, die hier heraus kommen, sollten keine Eingeweide haben.‹ Er besiegelte die Äußerung mit seinem Lächeln, so
     als hätte er einen Augenblick lang die Tür zu der Finsternis geöffnet, die er hütete. Man hatte das Gefühl, etwas gesehen
     zu haben – jetzt war es
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