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Herz der Finsternis

Titel: Herz der Finsternis
Autoren: Joseph Conrad
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nächsten Tag verließ ich endlich die Station und brach mit einer sechzigköpfigen Karawane zu einem Zweihundert-Meilen-Marsch
     auf.
    Zwecklos, euch viel davon zu berichten. Pfade, Pfade, überall; ein ausgetretenes Netzwerk von Pfaden, die sich durch das leere
     Land erstrecken, durch hohes Gras, durch verbranntes Gras, durch Dickicht, kühle Schluchten hinab und hinauf, glühende felsige
     Berge hinauf und hinab; und Einsamkeit, Einsamkeit, niemand, nicht eine Hütte. Die Bewohner haben sich vor langer Zeit davon
     gemacht. Zugegeben, wenn plötzlich ein Haufen geheimnisvoller Nigger, mit allen möglichen schrecklichen Waffen gerüstet, anfinge,
     die Straße zwischen Deal und Gravesend zu bereisen und rechts und links die Bauern einzufangen, damit sie schwere Lasten für
     sie schleppten, dann schätze ich, daß auch dort die Farmen und Hütten sich sehr schnell leerten. Nur daß hier sogar die Behausungen
     selbst verschwunden waren. Durch ein paar verlassene Dörfer kam ich dennoch. Es ist etwas rührend Kindliches an den Ruinen
     von Grasbauten. Ein Tag folgte dem andern, das Trampeln und Trotten von sechzig Paar nackten Füßen hinter mir, jedes davon
     beladen mit 60   Pfund Gewicht. Lagern, kochen, schlafen, Lager abbrechen, marschieren. Dann und wann ein Träger tot in den Sielen, zur Ruhe
     gebettet im hohen Gras |33| neben dem Pfad, neben ihm der lange Wanderstab und eine leere Kürbisflasche. Eine große Stille um alles und über allem. Manchmal,
     in einer ruhigen Nacht, Trommelklang aus weiter Ferne, abschwellend, anschwellend, mächtiges dumpfes Trommeln; ein Klang –
     unheimlich, verlockend, vielsagend und wild, und vielleicht von so tiefer Bedeutung wie Glockengeläut in einem christlichen
     Land. Einmal ein weißer Mann in offener Uniform, der mit einer bewaffneten Eskorte von Sansibarern am Wegrand kampierte, sehr
     gastfreundlich und fröhlich – um nicht zu sagen, betrunken. Kümmerte sich um die Instandhaltung der Straße, erklärte er. Kann
     nicht behaupten, daß ich irgendeine Straße oder deren Instandhaltung bemerkt hätte, es sei denn, die Leiche eines Negers von
     mittlerem Alter, mit einem Einschußloch in der Stirn, über die ich ein paar Meilen weiter buchstäblich stolperte, kann als
     dauerhafte Verbesserung betrachtet werden. Ich hatte auch einen weißen Begleiter, keinen schlechten Kerl, er war nur etwas
     zu fett und hatte die unangenehme Angewohnheit, auf heißen Hügelkuppen in Ohnmacht zu fallen, meilenweit vom kleinsten bißchen
     Schatten oder Wasser. Lästig, versteht ihr, ihm die eigene Jacke als Sonnenschirm über den Kopf zu halten, während er wieder
     zu sich kommt. Ich konnte mir die Frage nicht verkneifen, weshalb er überhaupt hier heraus gekommen sei. ›Um reich zu werden,
     natürlich. Was glauben Sie denn?‹ antwortete er verächtlich. Dann bekam er Fieber und mußte in einer Hängematte an einer Stange
     getragen werden. Weil er zwei Zentner wog, gab es endlose Reibereien mit den Trägern. Sie bockten, rannten fort, schlichen
     sich nachts mit ihrer Last davon – eine richtiggehende Meuterei. Also hielt ich eines Abends auf englisch eine Rede mit Gebärden,
     von denen die sechzig Augenpaare vor mir nicht eine einzige mißverstanden, und am nächsten Morgen setzte ich die Hängematte
     an die Spitze des Zugs. Eine Stunde später fand ich die ganze Angelegenheit in Trümmern |34| in einem Busch   – Mann, Hängematte, Stöhnen, Decken, Grausen. Die schwere Stange hatte dem armen Kerl die Nase abgeschürft. Er wollte unbedingt,
     daß ich jemand umbrachte, aber es war nicht der Schatten eines Trägers in der Nähe. Mir fiel ein, was der alte Arzt gesagt
     hatte – ›Für die Wissenschaft wäre es interessant, die geistigen Veränderungen des Individuums an Ort und Stelle zu verfolgen.‹
     Ich hatte das Gefühl, wissenschaftlich interessant zu werden. Doch all das ist unwichtig. Am fünfzehnten Tag sah ich den großen
     Fluß wieder und humpelte in die Zentralstation. Die Station befand sich an einem toten Nebenarm des Flusses, inmitten von
     Busch und Wald, umgeben von der hübschen, stinkenden Schlammbank auf der einen Seite und einem windschiefen Binsenzaun auf
     den anderen drei. Eine verwahrloste Lücke im Zaun war der einzige Zugang, und ein Blick genügte, um zu erkennen, daß an diesem
     Ort der schlaffe Teufel das Regiment führte. Weiße Männer mit langen Stäben tauchten teilnahmslos zwischen den Gebäuden auf,
     schlenderten herbei, um
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