Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Herz der Finsternis

Titel: Herz der Finsternis
Autoren: Joseph Conrad
Vom Netzwerk:
lehnten gegen die Stämme, klammerten sich an die Erde, vom
     dämmrigen Licht halb hervorgehoben, halb ausgelöscht, mit allen möglichen Gebärden von Schmerz, Vernachlässigung und Verzweiflung.
     Eine weitere Sprengung krachte in den Klippen, gefolgt von einem leichten Zittern des Bodens unter meinen Füßen. Das Werk
     ging voran. Das Werk! |28| Und hier war der Ort, an den sich einige der Helfer zum Sterben zurückgezogen hatten.
    Sie starben langsam – das war ganz klar. Dies waren keine Feinde, keine Verbrecher, sie waren nichts Irdisches mehr, nur noch
     schwarze Schatten der Krankheit und des Hungers, die durcheinander im grünlichen Schatten lagen. Aus allen Winkeln der Küste
     herbeigebracht mit der Rechtmäßigkeit von Zeitverträgen, verloren in einer fremden Umgebung, ernährt mit ungewohntem Essen,
     erkrankten sie, wurden unbrauchbar und durften dann davonkriechen und ruhen. Die dem Tode geweihten Gestalten waren frei wie
     die Luft – und fast so dünn. Jetzt konnte ich das Leuchten ihrer Augen unter den Bäumen ausmachen. Als ich nach unten sah,
     bemerkte ich ein Gesicht in der Nähe meiner Hand. Die schwarzen Knochen der Länge nach ausgestreckt, eine Schulter gegen den
     Baum, langsam hoben sich die Lider und tiefliegende Augen sahen zu mir herauf, riesig und leer, ein blindes, weißes Blinzeln
     in der Tiefe der Augäpfel, das langsam erstarb. Der Mann schien noch jung – fast ein Knabe   –, aber ihr wißt ja, sie sind schwer zu schätzen. Mir fiel nichts anderes ein, als ihm einen der guten schwedischen Schiffszwiebacke
     anzubieten, die ich in der Tasche hatte. Seine Finger schlossen sich langsam darum und hielten ihn fest – keine weitere Regung,
     kein weiterer Blick. Er hatte sich ein Stück weiße Wolle um den Hals gebunden – warum? Woher hatte er es? War es ein Abzeichen   – Schmuck – ein Talisman – ein Sühneopfer? War überhaupt irgendeine Idee damit verbunden? Er wirkte bizarr an seinem schwarzen
     Hals, dieser weiße Faden von jenseits des Meeres.
    In der Nähe desselben Baums hockten noch zwei Bündel spitzer Winkel mit angezogenen Beinen. Einer, das Kinn auf die Knie gestützt,
     starrte auf unerträgliche, schaurige Weise ins Nichts. Sein geisterhafter Zwilling hielt sich die Stirn, wie von großer Erschöpfung
     überkommen; und überall waren |29| weitere verstreut, in allen möglichen grotesken Stellungen des Zusammenbruchs, wie das Bild eines Massakers oder einer Seuche.
     Während ich vom Grauen gepackt dastand, hievte sich eine der Kreaturen auf Hände und Füße und kroch auf allen vieren zum Fluß,
     um zu trinken. Er schlürfte aus der hohlen Hand, dann setzte er sich im Sonnenschein auf, kreuzte die Schienbeine vor sich
     und ließ nach einer Weile den wolligen Kopf auf das Brustbein fallen.
    Mir war nicht danach, weiter im Schatten herumzustehen, und so beeilte ich mich, zur Station zu kommen. In der Nähe der Gebäude
     angelangt, traf ich einen weißen Mann in so unerwartet eleganter Aufmachung, daß ich ihn im ersten Moment für eine Erscheinung
     hielt. Ich sah einen hohen, gestärkten Kragen, weiße Manschetten, eine Jacke aus heller Alpakawolle, schneeweiße Hosen, eine
     saubere Krawatte und glänzende Stiefel. Kein Hut. Das Haar gescheitelt, gebürstet, geölt, unter einem grüngesäumten Sonnenschirm,
     der von einer großen weißen Hand gehalten wurde. Er war wirklich erstaunlich, hinter seinem Ohr klemmte ein Federhalter.
    Ich schüttelte diesem Wunder die Hand und erfuhr, daß er der Prokurist der Handelsgesellschaft war und daß die gesamte Buchhaltung
     hier in dieser Station erledigt wurde. Er sei einen Moment herausgekommen, sagte er, ›um frische Luft zu schnappen‹. Der Ausdruck
     klang wunderbar abwegig mit seiner Anmutung eines ruhevollen Schreibtischlebens. Ich hätte euch den Kerl nicht erwähnt, wenn
     ich nicht aus seinem Mund zum ersten Mal den Namen jenes Mannes gehört hätte, der so untrennbar mit der Erinnerung an diese
     Zeit verwoben ist. Darüber hinaus hatte ich vollsten Respekt für ihn. Ja. Ich respektierte seinen Kragen, seine breiten Manschetten,
     sein gebürstetes Haar. Er sah aus wie die Schaufensterpuppe eines Frisörs, doch dem großen Sittenverfall des Landes zum Trotz
     wahrte er den Schein. Das ist Rückgrat. Seine gestärkten Kragen |30| und die makellose Hemdbrust waren Errungenschaften, die von Charakterstärke zeugten. Er war seit fast drei Jahren hier draußen,
     und ich konnte mir später die Frage
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher