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Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)

Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)

Titel: Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)
Autoren: Hans Magnus Enzensberger
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öfteren von der Staatsraison die Rede. Unklar bleibt, wer über diese besondere Form von Vernunft verfügen mag. Gemeint sind vermutlich Personen, die sich regelmäßig auf sogenannten Gipfeln versammeln.
    Dabei fällt mir ein vergessener italienischer Premierminister ein, der sich anno 1914 auf den sacro egoismo berief, der seiner Regierung zustehe. Umgekehrt, möchte man sagen, wird ein Schuh daraus. Einen heiligen Egoismus kann höchstens der Einzelne aufbringen, wenn ihm die Staatsraison keine andere Wahl mehr läßt. Etwas Derartiges hat sich, um nur ein Beispiel zu nennen, am 20. Juli 1944 in Berlin zugetragen.«

238 »Daß die Natur von der sozialen Gerechtigkeit nicht viel hält, zeigt sich daran, daß die Fähigkeit zu lernen in jeder Population ungleich verteilt ist. Immerhin gibt es überall Menschen, denen es nicht schwerfällt, ihre Vorstellungen zu überprüfen und ihre Kenntnisse zu vertiefen; manche tun das sogar ausgesprochen gern. Einem erfahrenen Arzt genügen wenige Minuten, um eine Diagnose zu treffen, eine tüchtige Putzfrau findet sich rasch in einem fremden Haushalt zurecht, ein gescheiter Wissenschaftler muß in der Lage sein, den Mißgriff, den er im Labor begangen hat, einzugestehen. Ohne solche Fähigkeiten wäre eine Spezies wie der homo sapiens längst ausgestorben.
    Leider sind solche Gaben nur auf der Ebene des Individuums anzutreffen. Kollektive dagegen lernen äußerst ungern. Sie kapieren erst dann etwas, wenn der Druck derart zunimmt, daß ihnen kein anderer Ausweg mehr übrigbleibt. Wie immer empfiehlt sich, um das einzusehen, ein Blick vor die eigene Haustür. Ein Weltkrieg hat nicht genügt, um den Deutschen klarzumachen, daß es keine glänzende Idee war, die Weltherrschaft anzustreben. Davon mußte sie erst ein zweiter Weltkrieg überzeugen, und auch den haben sie, mit den bekannten Folgen, bis zum letzten Volkssturm-Pimpfen geführt.«
    Das sei zwar ein besonders starkes Beispiel, fuhr Z. fort, aber durchaus kein Einzelfall.Siehe Alexander, siehe Napoleon, siehe die KPdSU, siehe hundert andere Kollektive, die bis zum Untergang unbelehrbar geblieben sind. Auch dort, wo die Kräfte zur völligen Selbstzerstörung nicht ausreichten, scheine »Augen zu und durch« zu den bevorzugten Maximen einer jeden politischen Klasse zu gehören. Sie werde, um ihre Fehler nicht einzugestehen, so lange an ihren fixen Ideen festhalten, bis das Desaster komplett sei.

239 » To paint yourself into a corner «, sagte Z. »Kennen Sie das?« Er wisse gar nicht, wie man das auf deutsch sage. Ihm sei ein Licht aufgegangen, als er diese Redewendung zum ersten Mal gehört habe.
    »Also, Sie stehen da seit ein paar Stunden in Ihren abgetragensten Klamotten mit der Streichbürste in der Hand und dem Farbtopf neben sich. Und dann stellen Sie fest, daß Sie einen Fehler gemacht haben – leider ist es bereits zu spät. Vor Ihnen liegt eine wunderbar glatte, naß glänzende Fläche. Sie haben sich selbst in die Ecke gemalt, und ohneihr eigenes Werk zu zerstören, finden Sie nicht mehr hinaus.«
    »Selber schuld!« rief der Abiturient. »Weil Sie nicht aufgepaßt haben.«
    »Sie glauben also, so etwas könnte Ihnen nicht passieren? Haben Sie nie eine Menge Zeit und Mühe in ein Vorhaben, eine Arbeit, ein Unternehmen investiert und irgendwann gemerkt, daß sich Ihre Lage mit jedem Schritt, den Sie tun, verschlimmern wird? Sie werden also, um im Bild zu bleiben, Ihre Schuhe ausziehen und den Raum auf Zehenspitzen verlassen, auch wenn Sie dabei Ihre Socken mit frischer Farbe bekleckern.«
    »Wenn es sonst nichts ist!« unterbrach ihn ein Mann, der wie ein Handwerker aussah. »Ich wäre in einem solchen Fall schon froh, wenn mir niemand bei meiner Blamage zugeschaut hätte.«
    »Ich auch«, sagte Z. »Aber weniger komisch geht es zu, wenn sich nicht ein einzelner, sondern ein Kollektiv in eine ausweglose Lage begeben hat. Denn dann geht es beim Rückzug nicht ohne hohe Kosten ab.Denken Sie an eine kriegführende Armee vor der Niederlage oder an eine politische Provokation. Wer so etwas angezettelt hat, dem geht es nicht mehr darum, die Verluste zu minimieren. Er wird eher so lange weitermachen, bis alles ›in Scherben fällt‹‚ wie es in einem einschlägigen Marschlied heißt. So glaubt er, das, was ihm am teuersten ist, retten zu können: das Prestige, das er mit seiner Ehre verwechselt.«
    Es freue ihn, sagte Z., daß es hierzulande gewöhnlich ziviler zugehe. So könne man auch im tiefsten Frieden, ohne
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