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Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)

Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)

Titel: Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)
Autoren: Hans Magnus Enzensberger
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selber Stellung beziehen, statt den Verantwortlichen, um im Bilde zu bleiben, am Zeug zu flicken, zitierte Z. Alexander Herzen: »Ehrlichkeit und Unabhängigkeit sind meine einzigen Götzen. Ich möchte weder unter die eine noch unter die andere Fahne treten, die von irgendwelchen Parteien aufgepflanzt wird.«

245 »Damit sagen Sie uns nichts Neues«, rief der aufdringliche junge Philosoph. »Sind wir denn dazu verdammt, immer dieselben Worte wiederzukäuen?«
    »Leider«, sagte Z. »Daß die Zensur keine gute Idee ist, daß die Sklaverei den Sklaven keinen Spaß macht, muß bedauerlicherweise immer wieder erwähnt werden, auch wenn man es bereits oft genug gehört hat. Die Politik ist die ewige Wiederkehr des Gleichen. Und nicht nur sie! Auch die Kultur ist ein Wiederkäuer. Sie brauchen nur auf die Vorsilben zu achten, mit denen sie aufwartet. Alles, was mit Neo-, Retro- und P ost- anfängt, ist ein alter Hut. Man könnte fast glauben, daß uns nichts Neues mehr einfällt. Sie sehen, daß ich Ihnen von Herzen beipflichte, auch wenn Ihnen das nicht paßt.«

246 »Haben Sie Angst vor Hexametern? Früher gab es Leute, die haben solche Verse auswendig gelernt, sogar auf griechisch. Das ist aber nicht unbedingt nötig. Es genügt, wenn Sie sich von den Daktylen schaukeln lassen; nach fünf Minuten geht das ganz von selbst, wie beim Schwimmen.«
    Davon waren nicht alle überzeugt; der eine oder andere Nichtschwimmer meinte, so einfach sei das nicht.
    Z. sagte: »Wenn Sie wollen, erzähle ich Ihnen, wie es mir damit ergangen ist. Ich fliege nur, wenn mir nichts anderes übrigbleibt. Auf den Flughäfen wird man dauernd kujoniert. An Bord liegt einem ständig irgendeine Lautsprecherstimme mit überflüssigen Ansagen in den Ohren. Am schlimmsten
ist es aber, wenn man eine ganze Nacht lang in einer dieser Blechbüchsen zubringen
muß.
    Einmal sollte ich nach New York reisen, fragen Sie mich bitte nicht, weshalb. Der Flug dauert ungefähr neun Stunden. Ohne ein wirksames Betäubungsmittel ist das kaum zu ertragen. Ich hatte mich natürlich entsprechend vorbereitet. In meinem Handgepäck befand sich eine handliche Dünndruckausgabe der Odyssee . Weil ich zu ungebildet bin, um diese vierundzwanzig Gesänge im Original zu lesen, hatte ich mir die alte Übersetzung von Johann Heinrich Voss besorgt.
    Das Ron-ron-ron seiner Hexameter hat mich nicht eingeschläfert, sondern wach gehalten. Die Story ist spannender als jeder Thriller, und sie geht derart ins Ohr, daß man das Buch nicht mehr weglegen kann.
    Ich wies das Tablett mit dem lauwarmen Huhn zurück und verzichtete darauf, die angebotenen Tütchen, Döschen und Fläschchen zu öffnen. Ich wünschte nur, in Ruhe gelassen zu werden. Kurz nach Boston, als es hell wurde, las ich die letzten paar Zeilen:

    ›Halte nun ein und ruhe vom allverderbenden Kriege,
    daß dir Kronion nicht zürne, der Gott weithallender Donner!
    … Und freudig gehorcht’ Odysseus der Göttin.‹
    Die Zeit ist mir wie im Fluge vergangen.«

247 »Heute schlage ich vor, daß wir uns über den Odem unterhalten, den Hauch, den Atem.
    Ich möchte den Chemikern nicht zu nahe treten, aber im Grunde bin ich mit den traditionellen vier Elementen ganz zufrieden. Ich käme gut und gern mit Feuer, Wasser, Luft und Erde aus. Auf die paar Dutzend Transurane, die ehrgeizige Forscher bisher entdeckt oder erfunden haben, könnte ich verzichten.
    Sie werden mit entgegenhalten, die Luft sei gar kein Element, sondern ein Gasgemisch, das wir holen, schöpfen, um das wir ringen oder nach dem wir schnappen, mag es nun frisch, gut oder schlecht, dünn oder dick beschaffen sein. Wie phantastisch genau dieses Gemisch austariert ist, genau an unsere Lungen angepaßt!«
    »Damit verhält es sich genau umgekehrt«, wandte unser Zoologe ein. »Wir sind es, die sich an die Luft angepaßt haben. Das nennt man Evolution.
    Übrigens kommen die meisten Lebewesen ganz ohne Luft aus. Dieses Element ist auf der Erde erst seit 350 Millionen Jahren vorhanden. Alle, die vorher da waren, z. B. allerhand Bakterien, schlugen und schlagen sich bis heute mit Eisen, Schwefel, Arsen, Stickstoff, Methan und anderen Stoffen durch. Sie atmen, wenn man das so nennen will, einfach durch die Haut. Mit dem Sauerstoff können sie nichts anfangen; er ist geradezu Gift für sie.
    Die übrigen Erdbewohner mußten sich erst mühsam an das neuartige Gasgemisch gewöhnen. Tiere wie die Insekten, die Spinnen und die Fische kamen auf die Idee, durch kleine
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