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Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)

Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)

Titel: Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)
Autoren: Hans Magnus Enzensberger
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Besinnung kommt.
    Mit alldem wolle er nur sagen, daß unsere Intelligenz sich stets auf dünnem Eis bewege. Ein unmerkliches Stolpern, und wir brächen ein und versänken in den Fluten der Idiotie. Der müßige Zuschauer bei solchen Zwischenfällen tue, schon in seinem eigenen Interesse, gut daran, solche Fehlleistungen des Gehirns mit dem Mantel der Fernstenliebe zu bedecken.

251 »Den Wunsch, sich unangreifbar zu machen«, sagte Z., »hegt die Menschheit seit unvordenklichen Zeiten. Mit Zaubersprüchen, Wurzeln, Kräutern und Tätowierungen wollten sich schon die Germanen schützen, und heute noch glauben viele afrikanische Krieger, irgendeine Magie mache sie kugelfest. Eine verdünnte Form dieser Tricks findet sich nicht nur in vielen Computerspielen, sondern auch bei denen, die sich an öffentlichen Diskussionen beteiligen.
    Manche zitieren berühmte Namen oder berufen sich auf vermeintliche Autoritäten; andere glauben jede Kritik zu entwaffnen, indem sie ihr zuvorkommen. Noch besser ist es, den Gegner dadurch ins Leere laufen zu lassen, daß man ihn raten läßt, wie der jeweilige Orakelspruch gemeint sei. Wieder ein Beweis dafür, daß wir es eher mit dem Aberglauben halten als mit der Vernunft.«

252 »Ich muß zugeben, daß ich neulich mich und Sie getäuscht habe. Wenn man sich in seinem Gedächtnis verirrt, kann espassieren, daß es einem allerhand Unsinn vorgaukelt. Dafür bitte ich um Entschuldigung.
    Zu spät ist mir eingefallen, daß es keine Philosophin war, die der Welt erklärt hat, was Historical Luck ist. Offenbar habe ich mir diesen Begriff entweder selber ausgedacht, oder ich habe ihn mit einem anderen verwechselt, der nicht von einer imaginären Dame, sondern von zwei renommierten amerikanischen Herren herrührt – nämlich mit Moral Luck. Es waren, jetzt weiß ich es wieder, Thomas Nagel und Bernard Williams, denen dieses Konzept zu verdanken ist. Dabei geht es nicht mehr um die schiere Willkür der Geburt, sondern um die Frage der Zurechenbarkeit. Glück in diesem Sinn hat nur, wer nie auf die Probe gestellt worden ist.
    ›Was hättest du getan, wenn …‹ Das ist eine Frage, die zum Grübeln einlädt. Nur extrem eingebildete und selbstgerechte Leute werden bereit sein, sie umstandslos zu ihren Gunsten zu beantworten. Daran merken Sie, daß sich das Problem nicht zum Gesellschaftsspiel eignet. Wir sollten uns deshalb lieber einem anderen Thema zuwenden.«

253 Z. zog an einem seiner dünnen Zigarillos und sagte plötzlich, er denke manchmal an Gott. Einige Anwesende stöhnten, aber Z. war nicht zu bremsen.
    Gott sei ziemlich schwer zu finden, fuhr er fort. Früher habe man noch gewußt, wohin man sich wenden sollte: an den Olymp, an Walhalla, oder eben an den Himmel. Aber heutzutage?
    »Nun gehört zu den Attributen Gottes, wenn man den Theologen glauben darf, die Omnipräsenz. Allgegenwärtig heißt aber soviel wie überall, und zwar nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit; daher, wenn ich das recht verstanden habe, die Ewigkeit.
    Es muß sich also um eine Art Feld handeln, ähnlich wie der Äther, der im 19. Jahrhundert Mode war, als die Quantenphysik noch in den Kinderschuhen steckte. Leider fehlen uns die Organe, Antennen und Detektoren, um den Spin, die Ladung dieser phantomartigen Substanz, zu messen.
    Die Allgegenwart ist nicht immer ein Segen. Das Kapital, der Staat und die Reklame streben diesen Status an. Man kann nur hoffen, daß sie ihn nie ganz erlangen werden.«
    Wenn es aber um ein Höchstes Wesen gehe, das immer und überall da sei, aber nie erscheine, verstehe er die Omnipräsenz nicht als Drohung. Im Gegenteil; ihm jedenfalls gefalle eine solche Vorstellung. Mit diesem genügsamen Fazit ließ es Z. für diesmal genug sein.

254 Eine plötzliche Windsbraut fegte durch die Wipfel der alten Buchen und riß das bunte Laub von den Ästen. »Davon sollen wir Gebrauch machen. Sie wissen ja so gut wie ich, daß keines dieser Millionen von Blättern dem andern gleicht.«
    »Das kann ich nicht glauben«, sagte einer der Schüler, die bei uns herumlungerten.
    »Sie müssen nur genau hinschauen, dann merken Sie, daß meine Behauptung stimmt. Ein Philosoph, der vor dreihundert Jahren gestorben ist, hat mir das beigebracht. Gehen wir?«
    Wir zögerten, aber die Schüler fanden Gefallen an dem Spiel, hoben die Blätter eins nach dem andern auf und verglichen sie miteinander, während Z. sich damit vergnügte, auf einem Trampelpfad unter den Buchen knöcheltief im Laub zu rascheln,
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