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Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)

Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)

Titel: Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)
Autoren: Hans Magnus Enzensberger
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den Thesen, auf denen sie herumreiten. Ihr erster Hauptsatz besagt, daß die Energie in einem System zwar umgewandelt werden,aber nicht neu entstehen oder vernichtet werden kann. Der zweite Satz geht noch viel weiter; er behauptet, daß bei jedem natürlichen Vorgang die Entropie zunimmt.
    Wunderbar! Nur daß die Sache einen Haken hat. Im Kleingedruckten heißt es nämlich, daß das alles nur in einem geschlossenen System gilt. Aber gibt es das überhaupt? Ist die Energie in dem, was wir das Universum nennen, konstant? Ist die Welt ein geschlossenes System? Das weiß ich nicht, und ich glaube, daß die Physiker es ebensowenig wissen.«

230 Was ist ein Loch? Das war eine von diesen ebenso naiven wie tückischen Fragen, mit denen Z. gerne aufwartete. Oberflächen, sagte er, seien selten eben, die meisten bildeten Beulen, Senken, Spitzen und so fort. Aber Löcher? Ob dafür eine Delle, eine Vertiefung reichte? Wie sei das mit der Haut und ihren Poren? Müsse ein Loch nicht nach beiden Seiten durchlässig
sein?
    »Unsinn«, rief sogleich der vorlaute Abiturient aus der ersten Reihe und zeigte seine Schuhsohle vor. »Wollen Sie bestreiten, daß dieser Schuh ein Loch hat?«
    »Das habe ich auch immer gedacht«, erwiderte Z., »bis mir ein Topologe erklärte, das Loch sei überhaupt keine Eigenschaft der Fläche, sondern des Raumes, der sie umgibt. Wenn jemand, beispielsweise, auf einem Rettungsring oder auf einer Brezel zu Hause wäre, käme er nie auf die Idee, daß seine Welt ein Loch hätte. Deshalb hätten die Mathematiker alle Objekte in Klassen eingeteilt, je nachdem, wie viele Löcher sie hätten. Und diese Klassen nennen sie Geschlechter. Ich war verblüfft, als ich das hörte. Ein Hosenknopf mit drei Löchern hat demzufolge das Geschlecht drei und eine Kugel null. Wenn Sie dagegen Ihren eigenen Körper als eine Röhre betrachten, Lichtenberg soll dies vorgeschlagen haben, dann gehörte er nach dieser Logik zur ersten dieser Klassen.«
    »Glauben Sie das im Ernst?«
    »Eine gewöhnungsbedürftige Betrachtungsweise, zugegeben, aber daß sie scharfsinnig ist, können Sie nicht bestreiten.«
    »Und wozu soll das gut sein?«
    »Auch wenn ich nichts von Kosmologie verstehe, wüßte ich doch gern, ob das Universum porös ist oder ob es echte Löcher hat. Sie brauchen nur den Fernseher einzuschalten, und schon erzählt man Ihnen von Schwarzen Löchern. Mein Topologe sagt, wenn die Welt mehr als die üblichen vier Dimensionen hätte, würden wir das gar nicht bemerken. Er ist es gewohnt, mit fünf bis elf Dimensionen umzugehen, und dort wimmelt es von Mannigfaltigkeiten und Geschlechtern, und auch Wurmlöcher sind offenbar keine Seltenheit.«
    Er selber allerdings, mit diesen Worten versuchte Herr Z. seine Zuhörer zu beruhigen, gebe sich gewöhnlich mit dem zufrieden, was er sich vorstellen könne.

231 Ein bißchen Heidentum könne nicht schaden, versicherte Z. denen, die ihm nach wie vor zuhörten. Auch der Ahnungsloseste sei, ohne es zu merken, immerfort von den alten Göttern und Göttinnen umgeben. »Dazu ist ein Studium nicht erforderlich. Man greift zur Fernbedienung, und die Olympiade dröhnt einem in die Ohren; der Paketbote trägt den Namen Hermes auf seiner Bluse; ein Blick auf den Kalender zeigt, daß in jedem Wochentag und in jedem Monat alte Götzen, Geister und Dämonen spuken: Am Donnerstag und im Giovedí schleudern Thor und Jupiter ihre Blitze, am Freitag und am Venerdí suchen Freia und Aphrodite uns heim; Helios regiert den Sonntag, Mars oder Tyr den Dienstag, Merkur den Mittwoch und Saturn den Saturday oder Samstag.«
    Daraus zog Z. den Schluß, es sei gar nicht so leicht, etwas aus der Vorzeit ein für allemal loszuwerden.

232 Und das, fuhr er fort, gelte nicht nur für unseren kleinen Kontinent; denn auch alle anderen Bewohner des Planeten hätten sich an so manches gewöhnt, was auf dem europäischen Mist gewachsen sei. Zwar gebe es auf der Welt ein wahres Tohuwabohu von Zeitrechnungen und Kalendern, doch den Computern falle überall nur dieselbe Jahreszahl ein, auch wenn man Zusätze wie A. D., v. Chr., B. C. tunlichst durch neutralere Bezeichnungen ersetzt habe. Ebenso seien die metrischen Maße der Franzosen, die Skalen von Celsius und Fahrenheit oder das Periodische System der Herren Mendelejew und Meyer überall anzutreffen.
    Es sei schwer zu sagen, warum alle anderen Erdteile sich den Errungenschaften der Europäer unterworfen haben. »Überall gibt es Universitäten, Eisenbahnen,
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