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Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)

Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)

Titel: Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)
Autoren: Hans Magnus Enzensberger
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mir«, sagte Z., »an einen vergessenen Propheten zu erinnern, der sich darüber einst den Kopf zerbrochen hat. Wie viele seiner Vorgänger trug er einen imposanten Vollbart und war Vegetarier. Er hieß Silvio Gsell, und natürlich hatte er unter den Schikanen der Behörden und unter dem Spott seiner Mitwelt viel zu leiden. Einmal soll er der Münchner Räterepublik als Volksbeauftragter für Finanzen gedient haben, ein Amt, das nur sieben Tage lang währte, bis die Reichswehr wiederherstellte, was sie für Ordnung hielt. Dem Propheten wurde vor dem Standgericht Hochverrat vorgeworfen, doch weil niemand ihn ernst nahm, wurde er freigesprochen.
    Die Zustände in Argentinien, wo Gsell ein Geschäft eröffnete, gaben ihm zu denken. Immer dieses Auf und Ab von Zuviel und Zuwenig, Boom und Krise, Deflation und Inflation! Er kam zu dem Schluß, daß daran der Zins schuld war, und erfand einen einfachenWeg, dem ewigen Hin und Her ein Ende zu machen. Die Lösung des Problems war das Frei- oder Schwundgeld, eine Währung, die dauernd an Wert verliert, wenn man sie hortet, statt sie schleunigst auszugeben. ›Wenn Geldmangel herrscht‹, sagte Gsell, ›genügt eine Druckerpresse, um es zu vermehren, und wenn zuviel davon da ist, ein Ofen, um es zu verbrennen.‹
    Hohngelächter bei den Ökonomen aller Schulen und bei den Politikern aller Parteien. Nur ein halbverrückter Sektierer, hieß es, könne auf derart abwegige Gedanken kommen. Bis heute scheint niemand bemerkt zu haben, daß Gsell, hinter dem Rücken aller Nobelpreisträger und Zentralbankpräsidenten, den Sieg über seine Widersacher davongetragen hat.«
    Einige unter den Anwesenden fanden, daß Z. mit dieser Behauptung wieder einmal zu weit gegangen war, und verlangten, daß er sie zurücknehmen sollte.
    »Wieso? Dafür sehe ich keinen Grund. Das Geld, das heute im Umlauf ist, kann man mit Fug und Recht als Schwundgeld bezeichnen. Ein Gegenstand, den Sie 1945 für hundert Dollar kaufen konnten, kostet heute das Dreizehnfache. Von anderen Währungen wie der Reichsmark, dem Forint, der Lira, dem türkischen Pfund und dem Peso will ich gar nicht reden. Sollten Sie für Ihr Geld deutsche Staatsanleihen erwerben, so werden Sie mit Negativzinsen bestraft. Alle Schulden lösen sich so, ganz wie der Prophet aus Sankt Vith in den Ardennen es sich damals gewünscht hat, in Luft auf. Weil die Geldmenge ins Ungemessene zunimmt, müssen Milliarden verbrannt werden, nur daß dazu kein Ofen mehr benötigt wird. Umgekehrt, sollte es der einen oder anderen Bank an Geld fehlen, so braucht sie nur ihren Finanzierungsbedarf anzumelden, und schon sorgt die Druckerpresse für Erleichterung. Man nennt dieses Verfahren quantitative easing. Sie sehen also, ein Ende des Veitstanzes ist nicht abzusehen.«

220 »Wie ich sehe, haben viele von Ihnen einen Schirm mitgebracht, obwohl es im Augenblick nicht nach einem Landregenaussieht. Das ist klug, denn man kann nie wissen, was bevorsteht. In letzter Zeit hat das Schutzbedürfnis stark zugenommen, und dementsprechend sind die Schirme immer größer und kostspieliger geworden. Ganze Länder sind unter sie geschlüpft.
    Das erinnert mich an ein kleines Abenteuer, das mir vor Jahren in London zugestoßen ist. An einem schönen Tag im Juni war ich im Westend unterwegs, als sich plötzlich ein Gewitter zusammenbraute. Bald schüttete es, wie die Engländer sagen, Katzen und Hunde. Glücklicherweise sah ich an der Ecke Piccadilly und St. James’s Street einen gutsortierten Laden, der Spazierstöcke und Regenschirme feilbot. Ich wählte, angeleitet von einem zuvorkommenden Experten, ein robustes schwarzes Modell mit solidem Griff. Man präsentierte mir eine Rechnung in Höhe von 550 Pfund Sterling. Ich war verblüfft. Da ich diese märchenhafte Summe nicht hatte, mußte ich von dem Kauf zurücktreten. Ich war in das teuerste Geschäft Londons geraten.
    Diese Episode fällt mir ein, wenn ich heuteeine Zeitung aufschlage. Denn die Schirme, die derzeit aufgespannt werden, sind noch weit kostspieliger als die in St. James’s, und so riesig, daß sie sich kaum mehr zusammenklappen lassen. Auch ist unklar, wer sie tragen, wer also die Schirmherrschaft übernehmen soll. Die Erfinder dieser Utensilien beteuern, daß sie auf Rettung bedacht sind; insofern liegt der Gedanke an Fallschirme nahe, mit denen man, wenn einem nichts anderes mehr übrigbleibt, aus einem havarierten Flugzeug springen kann.
    Ich kann nur hoffen, daß die Schirme, die Sie mitgebracht
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