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Herrmann, Elisabeth

Herrmann, Elisabeth

Titel: Herrmann, Elisabeth
Autoren: Zeugin der Toten
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werden konnten.
    »Wo kommst
du denn her?«
    »Aus
Berlin.«
    Woher auch
sonst. Und immer wieder die See als Fluchtweg in das, was für diese Menschen
die Freiheit bedeutete. Die Küste war keine zehn Minuten Fußmarsch entfernt.
Wahrscheinlich hatten sie das Mädchen streunend aufgegriffen, während seine
Mutter das Weite suchte. Nachdem sie endlich eine plausible Erklärung für die
nächtliche Ruhestörung hatte, fiel Martha das Radio wieder ein und dass sie
vielleicht kurz vor Mitternacht noch einmal Glück haben könnte.
    »Gib mir mein
Äffchen wieder.«
    »Nein.«
    »Ich will
mein Äffchen wiederhaben!«
    Martha
wollte gerade Luft holen, um dem Kind unmissverständlich klarzumachen, dass
die Zeit der Sonderwünsche vorbei war. Da sah sie, wie die Augen des Mädchens
sich vor Schreck weiteten, und hörte hinter sich eine leise, nicht unfreundliche
Stimme.
    »Guten
Abend, Judith.«
    Das
Flurlicht flammte auf. Zu Tode erschrocken fuhr sie herum. Das Mädchen suchte
Schutz hinter ihr und klammerte sich an ihrem Rock fest.
    Er war
ungefähr Mitte vierzig und mittelgroß. Er hatte das runde, helle Gesicht eines
Norddeutschen, doch seine Haut war für diese Jahreszeit ungewöhnlich fahl und
blass und von Sommersprossen bedeckt. Als er die Hand nach dem Kind ausstreckte,
wich es noch ängstlicher zurück. »Wer sind Sie?«
    Eine
hagere, hochgewachsene Gestalt tauchte hinter ihm auf. Trenkner.
    »Das hat
alles seine Richtigkeit.«
    Die
stellvertretende Heimleiterin hielt dem Mädchen einen Schlafanzug hin. Er sah
weder neu noch gebügelt, sondern ziemlich zerknittert aus.
    »Zieh das
an.«
    Martha
konnte hinter ihrem Rücken spüren, dass das Kind den Kopf schüttelte. »Zieh das
an!«
    »Nein!«
    Trenkner
hob ruckartig den Kopf. In drei Schritten war sie an der geöffneten
Schlafsaaltür. Sie ging hinein, sah sich um und zog im Hinausgehen sorgfältig
die Tür hinter sich zu. Martha holte tief Luft.
    »Frau
Trenkner, dieses Kind hier ...«
    »Judith.
Ja.« Über das hagere, lange Gesicht der Frau huschte ein flüchtiges Lächeln.
»Du sollst nachts nicht im Flur herumspazieren. Weißt du, was mit Kindern
passiert, die das machen? Die holt der Schwarze Mann.«
    Das
Mädchen presste sich noch enger an Martha.
    »Verzeihung,
aber das ist nicht Judith, Frau Trenkner.«
    Die
stellvertretende Heimleiterin und der Unbekannte sahen sich kurz an.
    »Folgen
Sie uns ins Büro. Und du«, Trenkner sah das Kind streng an, »gehst in dein
Bett. Und wenn ich dich noch einmal nachts im Gang erwische, kommst du in den
Keller. Für immer.«
    Sie hielt
dem Mädchen wieder den Schlafanzug hin. Als drei Sekunden vergangen waren und
es sich immer noch nicht rührte, ließ sie ihn fallen. Dann drehte sie sich um
und ging demonstrativ voran, die Treppe hinunter, durch die Eingangshalle in
das Büro der Heimleiterin.
    Trenkner,
die Stellvertreterin, nahm so selbstverständlich hinter dem großen, alten
Schreibtisch Platz, als hätte sie hier schon immer gesessen. Die kleine
Arbeitslampe verbreitete ein diffuses, gelbliches Licht. Vor ihr lag eine
dünne Akte, die sie zu sich heranzog und öffnete. »Setzen Sie sich.«
    Es war
nicht klar, wer gemeint war, denn es gab nur einen weiteren Stuhl im Zimmer.
Der Unbekannte nickte Martha zu. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie einen
rosafarbenen Hausanzug trug und sich vor dem Schlafengehen weder abgeschminkt
noch gekämmt hatte. Den Stoffaffen hielt sie genauso eng an sich gepresst wie
zuvor das Mädchen.
    »Judith
Kepler, geboren 22. September 1979«, begann Trenkner mit ihrer emotionslosen,
kühlen Stimme. »Antrag der Schule und der Kaufhalle >rationell< auf
Unterbringung des Kindes in geordneten Verhältnissen. Die Organe der
Jugendhilfe fanden eine verwahrloste Wohnung vor, die Kleidung des Kindes war
liederlich und schmutzig. Die Mutter Hilfsschülerin, später in der
Pfandflaschenannahme der Kaufhalle beschäftigt. Wird als schwachsinnig und alkoholabhängig
beschrieben. Sie äußerte sich negativ, bösartig und zerstörerisch gegenüber den
Kräften von Schule und Gesellschaft. Heimerziehung wurde vorerst für die Dauer
von zwei Jahren angeordnet.«
    Sie sah
hoch. Ihr Blick fiel auf Martha, die genau denselben Vortrag einige Wochen
zuvor schon einmal gehört hatte. Lagebesprechung, in diesem Zimmer. Die
Heimleiterin auf dem Platz, auf dem nun Trenkner saß. Die Erzieherinnen vor dem
Tisch, in einer Reihe nebeneinander. Sie hatten überlegt, in welchem Haus Judith
am besten untergebracht
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