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Herrmann, Elisabeth

Herrmann, Elisabeth

Titel: Herrmann, Elisabeth
Autoren: Zeugin der Toten
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der
Treppe blieb Martha stehen. Der Wartburg draußen vor der Tür sprang an und
fuhr leise davon. Ihr Herz klopfte schwer und dröhnend wie ein Schmiedehammer.
Mit zitternder Hand tastete sie nach dem Lichtschalter und legte ihn um. Das
Klacken war so laut wie ein Schuss.
    Du bist
noch einmal davongekommen.
    Schwerin.
Demmlerplatz. Sitz der Abteilung XV des MfS und seines berüchtigten
Gefängnisses. Hubert Stanz. Langsam ging sie die Treppe hoch, darauf bedacht,
mit der knappen Luft in ihren Lungen hauszuhalten. Vor der Tür zu Saal IV
blieb sie stehen. Dann drückte sie langsam die Klinke hinunter.
    Leises
Atmen und Schnaufen, mehr war nicht zu hören. Vorsichtig, um kein unnötiges
Geräusch zu verursachen, tastete sie sich durch die Reihen. Ihre Augen mussten
sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Ein schmaler Streifen Licht erhellte den
Schlafsaal nach hinten nur so viel, dass sie die Umrisse der Betten und die
beiden großen, dunklen Vierecke an der Wand erkennen konnte. Vor Nummer 052
blieb sie stehen. Das Mädchen lag auf dem Rücken und starrte an die Decke.
    Zweihundertdreiundzwanzig
Kinder. Sie kamen und gingen. Manche kehrten zurück zu ihren Eltern, die
meisten aber wechselten nur das Haus, die Jahrgangsstufen, die Schule, kamen
in andere Heime, zogen irgendwann aus, und ihre Spuren verloren sich und verschwanden
wie die Farbe aus uralten Klassenfotos, wurden blasser in der Erinnerung,
bleicher und durchsichtiger, lösten sich auf und mündeten im Fluss des
Vergessens, der alles mit sich forttrug - Namen, Nummern, Gesichter und zuletzt
die Hoffnung auf etwas Besseres, das man einmal hatte aufbauen wollen, damals,
als alle jung waren und voller Zuversicht, auf der richtigen Seite im richtigen
Land zu sein.
    »Judith?«
    Das Kind
weinte mit offenen Augen. Es blinzelte nicht und wischte auch die Tränen nicht
fort. Sie rannen einfach aus den Augenwinkeln über die Schläfen und
versickerten im Haar. Es sah Martha nicht an.
    »Wo ist
mein Äffchen?«
    »Es ist
fort.«
    Martha
setzte sich auf die Bettkante. Sie nahm das Tiemi, das auf den Fußboden
gefallen war, und legte es neben das Kopfkissen.
    »Ich will
zu meiner Mama.«
    »Judith,
deine Mama ...«
    »Ich heiße
Christel!«
    Marthas
Hand schnellte vor und presste sich auf die Lippen des Mädchens. Zum Glück
schliefen die anderen inzwischen wieder.
    Du bist
wahnsinnig. Mach, dass du verschwindest. Du setzt alles aufs Spiel.
    Aber
Martha verschwand nicht. Vielleicht lag es an diesem seltsamen Lächeln auf
Trenkners Gesicht und dem dunklen Fleck auf einem Staubmantel und der eiskalten
Angst und diesem Gefühl von Ohnmacht, das sich da unten im Büro der
Heimleiterin über sie gestülpt hatte wie eine schwarze Kapuze, unter der sie
fast erstickt wäre. Oder weil aus Nummer 052 plötzlich etwas anderes geworden
war. Martha hätte nicht sagen können, was. Ihr war klar, dass sie ab sofort
unter Beobachtung stand und dass diese Minuten die letzten waren, in denen der
richtige Name des Mädchens noch existierte. Ganz vorsichtig zog sie die Hand
zurück, beugte sich vor und flüsterte dem Kind ins Ohr.
    »Das ist
ab jetzt unser Geheimnis. Das wissen nur du und ich. Du musst jetzt sehr brav
sein. Verstehst du? Sehr, sehr brav. Und wenn du alles tust, was wir dir sagen,
dann kommt eines Tages deine Mama und holt dich ab.«
    Das
Mädchen wendete endlich den Kopf und sah sie an.
    »Schwörst
du das? Bei Gott?«
    Bei was
auch immer. Wenn es nur vergessen würde. Das war alles, was Martha noch den
Kopf retten konnte. »Ich schwöre. Wenn du brav bist.«
    »Dann
werde ich brav sein.«
    Das
Mädchen schloss die Augen. Martha legte ihm das Tiemi in den Arm. Dann stand
sie auf, strich ihm über den Kopf. Langsam ging sie hinaus, schaltete das
Flurlicht aus und schlich leise hinüber in ihr Zimmer. Erst als sie die Tür
hinter sich geschlossen hatte, breitete sich in ihr ein vages und zögerliches
Gefühl von Sicherheit aus.
    Das Gerät
stand noch genau so hinter dem Stapel Bettwäsche, wie sie es verlassen hatte.
Sie wollte gerade den Stecker aus der Dose ziehen, da hielt sie inne. Es war
kurz vor Mitternacht. Und sie hatte von Stanz persönlich die Erlaubnis, die
britische Hitparade zu hören. Sie drückte den Knopf, setzte die Kopfhörer auf
und wartete, bis das Radio warm gelaufen war und der Sender das Brummen
überlagerte. Sie sah auf die fluoreszierenden Zeiger ihres Weckers. Es war so
weit. Zeit für die Nummer eins.
    »...
if you're lost you can look and you will
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