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Herrmann, Elisabeth

Herrmann, Elisabeth

Titel: Herrmann, Elisabeth
Autoren: Zeugin der Toten
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nach
einem ausgiebigen Hustenanfall an, waren also eher Vermeidungstaktik als echte
Not. Am liebsten hätte sie den Jungen sofort nach Hause geschickt. Vor der
Toilettentür trennte sich die Spreu vom Weizen.
    »Ich fang
schon mal an«, rief sie. »Geht alles von deiner Pause ab.«
    Ein
Argument, das bei Leuten wie Kai oft Erstaunliches bewirkte. Vielleicht hätte
ihm jemand raten sollen, vor diesem Einsatz nichts zu essen.
     
    Als Erstes
prüfte sie das Bett und den Zustand der Matratze. Es stand mit dem Kopfende
mittig an der Wand. Kissen und Decke lagen links auf dem Boden, rechts stand
der Sarg. Von Gerlinde Wachsmuth war nur der Abdruck ihres Körpers auf dem
Laken geblieben. Sie musste eine kleine Person gewesen sein, die sich zum
Schlafen hingelegt hatte und nicht wieder aufgestanden war. Ein ruhiger Tod.
Ein sanfter, erwarteter Abschied. Ein stiller Gang. Judith spürte den Frieden
und die Abwesenheit von Angst. Manchmal war der Tod der einzige Freund, von dem
man nicht vergessen wurde.
    Und dann
hatte Gerlinde Wachsmuths Leiche sechs Wochen Zeit gehabt, sich im Hochsommer
im fünften Stock einer schlecht isolierten Wohnung aufzulösen. Die Silhouette
ihres Körpers war aus einem zarten Gelb, dort, wo Arme, Beine und Kopf gelegen
hatten. Doch zur Körpermitte hin verdunkelte sich der Ton, bis er in der Mitte
eine tiefviolette, fast schwarze Färbung erreichte. In dieser dunklen Mulde
bewegten sich weiße Punkte.
    Judith
musste nicht unter das Bett schauen, um zu wissen, dass sich darunter die
Flüssigkeit gesammelt hatte, die die Luft verpestete. Obwohl die
Bestattungshelfer das Fenster geöffnet hatten und die Mentholpaste auf ihrer
Oberlippe brannte, bohrte sich dieser Geruch wie mit einem Sandstrahler in alle
Poren.
    Die beiden
Männer hoben den Sarg hoch und trugen ihn, so vorsichtig es ging, aus der
Wohnung. Judith wartete, bis sie die Toilettenspülung hörte.
    »Alles
okay?«, rief sie in den Flur.
    Die Tür
öffnete sich. Kai kam herüber und sah sie mit diesem Ich-will-nach-Hause-Blick
an, den alle hatten, die zum ersten Mal hinter die schöne Fassade vom Ende
aller Dinge geblickt hatten.
    »Ich
brauche Schutzbrille, Vollanzug. Desinfektions- und Reinigungsmittel.
Plastikfolie. Sprühkanister, Formaldehydverdampfer, Thermal- und
Kaltnebelgerät. Die abgeschlossene Giftkiste - Larvizide und Akarizide,
Monophosphan und Blausäure. Und natürlich die Kästen mit Scheuersand,
Kernseife, Bürsten und Schrubbern. Verstanden?«
    Kai
schüttelte den Kopf.
    »Es liegt
alles griffbereit auf der Pritsche.«
    Statt
einer Antwort stolperte er wieder ins Bad und schlug die Tür hinter sich zu.
Judith zählte von zehn bis eins und wartete. Das Würgen ließ nach. Natürlich
hätte sie selbst hinuntergehen können. Doch das wollte sie nicht.
    »Sind wir
jetzt langsam so weit?« Sie sah auf ihre Armbanduhr. »Ich gebe dir noch genau
eine Minute. Dann rufe ich Dombrowski an und sage ihm, er soll dich abziehen.«
    Die
Klospülung rauschte. Kurz darauf plätscherte der Wasserhahn. Als Kai ein
zweites Mal die Tür öffnete, drehte sie sich um und erwartete seinen Abschied.
    »Gibt's
was für die Nase?«, fragte er.
    »Atemschutzmasken.«
    »Doppelt,
wenn's geht.«
    Judith
grinste und zog zwei aus ihrer Hosentasche. »Na also. Nie ohne.«
     
    Judith
ging vor dem Bett auf die Knie. Sie trug ebenso wie Kai ellenbogenlange
Gummihandschuhe und einen Papieroverall. Sie deutete auf den Fleck, der sich
auf dem Teppichboden ausgebreitet hatte.
    »Chlor und
Sauerstoff. Aber du kriegst den Gestank trotzdem nicht weg. Der Teppich muss
raus. Mit Glück ist ein Holzfußboden darunter, den man abschleifen kann.«
    Sie stand
auf. Kai starrte immer noch auf die weißen Punkte in der Mitte der Matratze.
Sie hatten aufgehört sich zu bewegen, seit Judith sie mit dem Larvizid besprüht
hatte. Sie nahm die Atemschutzmaske ab.
    »Maden.
Mit ein bisschen Liebe betrachtet, sind es auch nur Lebewesen. Zumindest waren
sie es. Die Folie?«
    »Mo...
Moment.«
    Kai
schlüpfte in den Flur und kam mit der schweren Rolle zurück. Glücklicherweise
hatte Gerlinde Wachsmuth in einem Einzelbett das Zeitliche gesegnet. Die
Matratze war nicht schwer. Nur das Geräusch, als ein Teil der Maden hinunter
auf die ausgebreitete Folie fiel, machte Kai zu schaffen. Es klang wie eine
Handvoll Rosinen.
    »Ist es
immer so ekelhaft?«
    »Nein«,
log sie. »Meistens muss man nur die Betten abziehen und gründlich
saubermachen.«
    Das hier
war harmlos. Nichts im
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