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Herrmann, Elisabeth

Herrmann, Elisabeth

Titel: Herrmann, Elisabeth
Autoren: Zeugin der Toten
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Vergleich zu dem, was Cleaner sonst noch zu sehen
bekamen. Wahrscheinlich war er nur deshalb noch dabei, um abends seinen Freunden
von dieser Freakshow erzählen zu können, bei der er wie ein Komparse einmal
durchs Bild huschen durfte. Wow, Maden. Leichen. Totengräber. Nennt mich Held.
Judith nahm das Teppichmesser aus der Werkzeugkiste und schnitt die restliche
Folie zu.
    »Mann, was
für ein Job. Warum machst du das?«
    Sie dachte
kurz nach. Wahrscheinlich war es in einem Beruf, der unter Nachwuchsmangel
litt, nicht ratsam, die Wahrheit zu sagen.
    »Weil ich
es kann. Und viele andere eben nicht.«
    Sie
schnitt das letzte Stück Folie ab, fuhr die Klinge des Messers ein und ging
zum weit offenen Fenster. Die Mittagshitze hatte sich wie eine Glocke über die
Stadt gelegt. Von hier konnte sie bis zur Autobahn sehen. Sie bewunderte die
symmetrischen Halbkreise der Ab- und Auffahrten, über die sich die Blechlawinen
wälzten. Den besten Ausblick hatte man vom Funkturm. Manchmal gönnte sich
Judith einen Ausflug auf die Plattform. Dann starrte sie von oben auf die Stadt
und war überwältigt von ihrer rastlosen Schönheit. Sie dachte daran, dass sie
am Abend mit dem Teleskop in die Lausitz fahren wollte, auf der Suche nach dem
ultimativen dark spot, dem Ort mit der geringsten
Lichtverschmutzung. Sie wollte endlich einmal wieder einen richtigen
Sternenhimmel sehen. August. Die Wochen der Perseiden, des Meteorstromes, der
die ewig hoffende Menschheit mit einer Fülle von Versprechungen beschenkte, die
sich Sternschnuppen nannten.
    Sie
öffnete den Reißverschluss ihres Overalls und holte ein Päckchen Tabak heraus,
in dem sie immer eine kleine Anzahl vorgedrehte Zigaretten aufbewahrte. Sie bot
Kai eines der krummen Stäbchen an.
    »Woher
wusstest du, dass du das kannst?«, fragte er. »Hast du einen Eignungstest auf
dem Arbeitsamt gemacht?«
    Er gab ihr
Feuer. Sie beugte sich vor und sah seine Hände, die er schützend um die Flamme
hielt. Es waren junge Hände, mit schmalen Fingern und breiten Knöcheln. Noch
zehn Jahre, und es wären die Hände eines Mannes. Sie inhalierte den Rauch und
blies ihn an ihm vorbei aus dem Fenster hinaus. In zehn Jahren würde er
frühestens verstehen.
    »Es gibt
Jobs, auf die bewirbt man sich nicht. Die kommen zu einem.«
    »Einfach
so?«
    »Vielleicht
hast du es noch nicht begriffen. Das hier ist eine Chance.«
    Kai
stützte die Unterarme auf das Fensterbrett und sah aus, als ob er sich mit dem
Begreifen gerne noch ein bisschen länger Zeit lassen würde. Sie standen
Schulter an Schulter, und die einzigen Geräusche waren der Verkehrslärm von
unten und das leise Rascheln ihrer Overalls. Sie rauchten, und Judith blinzelte
in das helle Tageslicht und zählte die Jahre rückwärts, die sie trennten. Sie
kam auf elf. Er war zu jung für alles, was einem an so einem Tag in den Sinn
kommen konnte, wenn die brodelnde Hitze das Blut in den Adern zum Kochen brachte
und man in der Wohnung einer Toten plötzlich an Sternschnuppen dachte. Sie
drückte die Zigarette auf dem äußeren Fensterbrett aus, setzte die Maske wieder
auf, die auch nicht viel half, und ging ins Zimmer zurück. Fünf Minuten an der
frischen Luft hatten gereicht, um den Geruch der Hölle zu vergessen. Er traf
sie wie ein Schlag in die Magengrube.
    »Und die
Toten?« Er ließ nicht locker. »Wie kommst du mit den Toten zurecht?«
    »Wir
pflegen keinen allzu engen Umgang, wenn du das meinst.«
    Natürlich
meinte er das nicht. Sie hörte sich so abgebrüht an wie eine Ärztin aus einer
dieser amerikanischen Serien, die im Privatfernsehen rauf und runter liefen.
Dabei ging es einfach nur darum, dass Menschen auch nach dem Tod für sie
Menschen blieben. Man erwies ihnen einen letzten Dienst. Sie traten von beiden
Seiten an das Bett. Kai bückte sich und hob die Matratze auf der einen Seite
hoch, sie auf der anderen.
    »Ich habe
noch nie eine Leiche gesehen.«
    »Das kommt
noch.«
    »Vielleicht
hättest du zu den Bullen gehen sollen. Wenn du so auf Tote stehst.«
    Die
Matratze knallte auf den Boden. »Da ist die Tür«, sagte sie. Kai starrte sie
mit großen Augen an.
    »Ich meine
es ernst. Du kannst gehen.« Sie griff nach der Rolle mit dem Klebeband, das sie
auf dem Nachttisch abgelegt hatte. »Ich will mit Leuten wie dir nicht
zusammenarbeiten.«
    »Wie
meinst du das?«
    »Wie ich
es sage.«
    Kai warf
einen unschlüssigen Blick in Richtung Flur, den Weg in die Freiheit und einen
netten Nachmittag im Strandbad. »Und was sagst du
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