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Herrmann, Elisabeth

Herrmann, Elisabeth

Titel: Herrmann, Elisabeth
Autoren: Zeugin der Toten
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Matratze zum Wagen zu bringen. Während er damit unterwegs war,
begann sie mit der Desinfizierung des Raumes. Der Einsatz von weiterem Gift
war nicht nötig, so weit war die Verwesung noch nicht fortgeschritten. Jedes
Mal, wenn sie sich durch den engen Flur ins Badezimmer kämpfte, sah sie den
Mann auf der Couch sitzen, weit vornübergebeugt, als würde er etwas auf dem
ausgetretenen Teppichboden suchen. Beim vierten oder fünften Mal blieb sie
stehen und beobachtete ihn. Er suchte nichts. Er bewegte sich nur mit der
fahrigen Motorik des Süchtigen.
    »Wir sind
bald fertig«, sagte sie.
    Der Mann
sah auf.
    »Ich hab
sonst niemanden mehr.«
    Judith
zuckte mit den Schultern. Sie wollte sich nicht in ein Gespräch ziehen lassen.
    »Ich weiß,
was Sie denken«, sagte der Mann. »Ich hätte mich mehr um sie kümmern sollen.
Und Sie haben recht. Ja. Sie haben recht.«
    Er fing
wieder an zu wippen. Sie ging zurück ins Bad und ließ Wasser in den Eimer
laufen. Natürlich hatte sie recht. Aber es stand ihr nicht zu, darüber zu
urteilen, was im Leben von Gerlinde Wachsmuth und ihrem Sohn schiefgelaufen
war. Sein Foto hatte neben ihrem Bett gestanden. Er war in ihrem Leben gewesen,
sie aber nicht in seinem. So einfach und brutal war das. Die alte Wut stieg
wieder in ihr hoch, aber sie hatte gelernt, sie zu beherrschen. Man musste
unterscheiden zwischen dem, was richtig, was nötig und was sinnlos war. Es war
absolut sinnlos, Männern wie ihm die Wahrheit zu sagen. Sie würde an ihm abperlen
wie Regen an schmutzigen Scheiben.
    Sie drehte
den Wasserhahn zu und ging dann, ohne einen weiteren Blick auf den Heuchler im
Wohnzimmer zu werfen, zurück ins Schlafzimmer. Wenig später kam Kai dazu, und
sie arbeiteten, ohne hochzusehen, bis zum frühen Nachmittag.
     
    Judith
streifte den Overall ab und stopfte ihn in die blaue Mülltüte. Ihre Arbeit war
getan. Sie war zufrieden. Sie wies Kai an, die Säcke nach unten zu bringen, und
folgte ihm in den Flur.
    »Herr
Wachsmuth?«
    Die Tür
zum Wohnzimmer war geschlossen. Sie öffnete sie und stieß einen leisen Laut der
Überraschung aus. Kai, schon fast draußen, drehte sich um und kam zu ihr
zurück.
    »Ist nicht
wahr«, sagte er nur.
    Die Türen
des Wohnzimmerschrankes standen sperrangelweit offen. Die Schubladen waren
herausgezogen, ihr Inhalt lag verstreut auf dem Boden. Mehrere Bilderrahmen
waren achtlos auf den gekachelten Couchtisch geworfen worden. Die aufgerissenen
Rückseiten verrieten, dass hier jemand etwas in großer Hast und ohne Rücksicht
gesucht hatte. Wo sie einmal gehangen hatten, leuchteten helle Flecken auf der
Tapete. Judith nahm einen von ihnen hoch. Es war ein schlechter Druck von Spitzwegs
armem Poeten.
    »Das
Schwein ist weg.« Kai, der noch einmal die ganze Wohnung inspiziert hatte, kam
zurück. »Und jetzt?«
    Judith
hielt das Bild vor einen Fleck, der der Größe nach passen konnte.
    »Wir
müssen das aufräumen. Sonst hängt man uns das noch an.«
    »Ich
denke, wir haben Feierabend.«
    Sie
stellte das Bild ab, ging in die Knie und fing an, die Schubladen wieder
einzuräumen. Schnapsgläser, Schuhlöffel, halb abgebrannte Kerzen,
Spitzendeckchen, eine Schachtel mit Fotos. Alles achtlos hingeworfen und bis
unter die Couch verstreut. Kai seufzte, hob ein Sofakissen vom Boden auf und
puffte es mehrfach zusammen.
    »Wenn der
mir noch mal über den Weg läuft. Erst lässt er die Alte vermodern, und dann
beklaut er sie auch noch.«
    »Gerlinde«,
sagte Judith. »Die Alte hieß Gerlinde Wachsmuth.«
    Sie hielt
ein Foto in den Händen, das einen Mann, eine Frau und ein Kind zeigte.
Aufgenommen irgendwann in den sechziger Jahren, als man noch Haltung annahm
vor der Kamera, sich aber nicht mehr herausputzte wie zur Sonntagsmesse. Der
Mann war breitschultrig und etwas korpulent. Obwohl er streng in die Kamera
blickte, hatte er den Arm um die Schulter der Frau gelegt. Auf ihrem runden
Gesicht lag ein fast mädchenhaftes Lächeln. Der Junge hatte die Unterlippe
vorgeschoben, er sah nach oben zu seinem Vater und grinste ihn an.
    Judith
schob die restlichen Fotos in der Schachtel auseinander. Der Mann tauchte noch
mehrmals auf. Das Kind entwickelte sich zu einem hässlichen Teenager mit
Koteletten und langen Haaren und begann, Ähnlichkeit mit dem Wrack anzunehmen,
das ihr vor ein paar Stunden in dieser Wohnung begegnet war. Dann war der Mann
verschwunden. Die Frau stand noch einige Male verloren vor dem Eiffelturm oder
an einer Strandpromenade, der Rest waren
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