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Herrgottswinkel

Herrgottswinkel

Titel: Herrgottswinkel
Autoren: Ramona Ziegler
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enttäuscht, dass sie Erich nicht angetroffen hatten. Was, wenn er sich morgen verleugnen lassen würde, da er nun vorgewarnt war? War ihre Reise dann völlig umsonst gewesen? Denn spätestens morgen Nachmittag mussten sie zurück, für einen weiteren Tag würde ihr Geld nicht ausreichen. In einer Gaststätte nahmen sie sich ein Zimmer für die Nacht. Eigentlich hatte Anna gehofft, dass sie bei ihrem Mann übernachten konnten, aber er war ja nicht mehr allein. So direkt mit dieser Tatsache konfrontiert, schossen ihr schon wieder Tränen in die Augen. Ohne Abendessen und ohne sich zu entkleiden, schliefen Anna und Heinz schließlich tief erschöpft in ihren Hotelbetten ein.
    Als Anna am nächsten Morgen wieder klarer denken konnte, lastete noch immer ein schwerer Stein auf ihrer Brust. Was fiel ihrem Mann eigentlich ein, einfach bei einer anderen Frau einzuziehen und sie und die Kinder allein zurückzulassen? Da machte er es sich in Annas Augen zu leicht. Wie ein altes Paar abgelegter Strümpfe kam sie sich vor. Wollte Erich die Rotblonde in einigen Jahren genauso beiseitelegen wie sie, wenn der Reiz des Neuen verflogen sein würde? Und eine Schönheit war sie ja auch nicht gerade. Attraktiv ja, interessant vielleicht. Aber doch höchstens so attraktiv und interessant wie ein neues Paar Schuhe! Auch die waren nach kurzer Zeit abgelaufen, ausgetreten, unbrauchbar. Das würde sie Erich sagen, das musste er doch einsehen. Und dann würde er mit ihr heimkommen, da war sie sich sicher.
    Sie und Heinz liefen die kurze Wegstrecke zu dem Mietshaus, das sie nun schon kannten. Sie hatten noch nicht geklingelt, da öffnete sich die Tür und eine der Bewohnerinnen trat auf die Straße. Sie nutzten die Gelegenheit und schlüpften durch die offene Tür ins Treppenhaus. Im zweiten Stock fanden sie schnell die Wohnungstür, die zu ›Meck/Kiesow‹ gehörte. Anna klopfte aufgeregt.
    »Ja, bitte?« Erichs vertraute Stimme drang durch die Tür zu ihnen.
    Das war zu viel für Anna, sie glaubte, ihr würde das Herz in der Brust zerspringen. Ihr ganzer Körper zitterte und mit kleinlauter Stimme brachte sie ein »Ich bin es, Erich. Mach bitte auf« heraus.
    Es folgte ein Augenblick absoluter Stille, dann hörten sie ein Räuspern und Erich bat sie um einen Moment Geduld.
    Anna kamen die Minuten des Wartens wie eine Ewigkeit vor. Endlich vernahm sie das Geräusch des Schlüssels. Die Tür ging auf, Erich stand vor ihr. Er hatte sich nur schnell ein Unterhemd übergezogen, die Hosenträger hingen lose an seinen Hüften herab, er war verschlafen und unrasiert. Heinz durchschaute seinen Vater sofort. Das mit der Nachtschicht war eine Lüge, er hatte sich schon gestern von der Blonden verleugnen lassen!
    »Ich bin gekommen, um dich nach Hause zu holen. Hier gehörst du nicht her.« Annas Stimme klang überraschend selbstsicher, so, als hätte sie sich ihre Worte lange vorher überlegt.
    Erich brachte keinen Ton heraus. Er war von seiner Frau regelrecht im Schlaf überrumpelt worden, vor allem wollte er hier im Hausflur kein Aufsehen erregen, die Wände waren dünn. Unerwartet folgsam wie ein Kind, das einen Befehl bekommen hat, zog er sich die Schuhe an und griff an der Garderobe neben der Wohnungstür nach seinem Kittel. Dann stiegen sie zu dritt die Stufen ins Erdgeschoss hinunter. Heinz musste seine Mutter stützen, die seit vierundzwanzig Stunden nichts mehr gegessen und einen Schwächeanfall bekommen hatte. Auf dem Weg zum Bahnhof sagte keiner ein Wort.
    Wieder saß Anna einen ganzen Tag lang in einem schaukelnden Zug, allerdings verschlief sie diesmal fast die komplette Reise an Erichs Schulter gelehnt. Sie war die zurückliegende Woche keine Nacht richtig zur Ruhe gekommen, so viel war ihr durch den Kopf gegangen. Aber nun war alles erledigt, Erich saß an ihrer Seite und sie fuhren zusammen heim. Das war das Wichtigste, jetzt durfte sie schlafen. Zwischen Erich und Heinz kam kein Gespräch zustande, der Vater fühlte sich unwohl in der Gegenwart seines Sohnes, er spürte, dass Heinz ihn durchschaut hatte. Als Anna wieder aufwachte, hatten sie München fast erreicht. Sie mussten umsteigen und liefen den Bahnsteig entlang.
    »Du hast dir die Haare schneiden lassen«, bemerkte Erich. Erst jetzt war ihm bewusst geworden, dass Anna eine neue Frisur hatte – oder kam er darauf zu sprechen, um überhaupt ein Gesprächsthema zu haben?
    »Nicht nur das, Erich. Dir hätte in der Zwischenzeit auch auffallen können, dass ich mich auch sonst
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