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Herrentag: Anwalt Fickels erster Fall (German Edition)

Herrentag: Anwalt Fickels erster Fall (German Edition)

Titel: Herrentag: Anwalt Fickels erster Fall (German Edition)
Autoren: Hans-Henner Hess
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insbesondere natürlich seine langjährige Vorgesetzte – immerhin war die Driesel, wie jeder am Tisch bezeugen konnte, fast so etwas wie eine Ersatzmutter für den Hager gewesen. Die Sozialrichterin Pörtje brach sogar in Tränen aus und war kaum zu beruhigen, Stimmungsaufheller hin oder her. Aber der eigentlich interessante Teil von Recknagels Ausführungen kam ja erst noch – oder vielmehr: der schockierende.
    Denn dass der Hager mit seinem Familienbus von der Brücke geflogen war, war nämlich kein tragischer Unfall gewesen, wie es in den Nachrichten zuerst geheißen hatte, sondern hatte sich als geplanter Abflug herausgestellt. Mit anderen Worten: Der junge Richter hatte sich selbst gerichtet. Auf seinem Computer im Büro hatte die Kripo einen Abschiedsbrief an seine Frau entdeckt, in dem er sich mit rührenden Worten für sein familiäres und berufliches Versagen entschuldigte.
    Dass der Hager unter Eheproblemen gelitten hatte, war ja allgemein bekannt gewesen. Und dann war gestern wohl zu allem Überfluss die Nachricht vom Ministerium eingetroffen, dass es mit der Stelle in Meiningen nun doch nichts werden würde für ihn, obwohl sich die Driesel als scheidende Amtsgerichtsdirektorin persönlich für den Hager verwendet hatte!
    Womit natürlich niemand hatte rechnen können: Die Staatsanwaltschaft in Mühlhausen hatte wegen einiger unvorhersehbarer Schwangerschaften im Kollegium einen akuten Personalbedarf zu verzeichnen, den ausgerechnet der Richter Hager hatte auffangen sollen. Mühlhausen war natürlich von Bad Kissingen aus gesehen schon jenseits der Erdkrümmung, im Grunde fast Sachsen-Anhalt! Ganz zu schweigen von den Arbeitsbedingungen dort. Denn anders als im gemütlichen Meininger Amtsgericht galt bei den scharfen Hunden in der Strafverfolgungsbehörde fünf Tage pro Woche Anwesenheitspflicht! Da hätte der Hager seine Familie unter der Woche gar nicht mehr gesehen; und wo seine Frau schon jetzt mit den beiden Kleinen im Dreieck sprang, hätte das praktisch die Scheidung bedeutet.
    Irgendwo am Tisch meinte einer: »Das hat er jetzt von seiner Pendelei!« Aber der Kriminalrat verbat sich alle Ressentiments, schließlich lag ihm noch im Magen, wie er der Witwe die schreckliche Nachricht hatte überbringen müssen. Alleinerziehend in Bad Kissingen, das war fast noch schlimmer als verheiratet in Mühlhausen!
    Da herrschte natürlich erst mal pietätvolles Schweigen. Aber es kam noch dicker: Die Kripo hatte in Hagers Büro nicht nur den aufwühlenden Abschiedsbrief an seine Frau gefunden, sondern auch noch einen zweiten. An dieser Stelle wandte sich der Recknagel an das staunende Auditorium: »Und jetzt ratet mal, was da drinstand!«
    Aber niemand wollte raten – alle Anwesenden, sogar die anderen Gäste und der Höhlen-Micha, sahen den Kriminalrat mit vor Spannung geweiteten Augen an. Der machte noch eine dramaturgische Pause, bevor er die Katze endlich aus dem Sack ließ: »Der Hager hat die Kminikowski auf dem Gewissen!«
    Zuerst hielten alle den Atem an. Dann hörte man einen hysterischen Schrei von der Pörtje, und schließlich brach ein Raunen los. Die Driesel war so schockiert, dass der Amthor prophylaktisch eine Mund-zu-Mund-Beatmung durchführte, was bei seiner Raucherlunge jedoch eher kontraproduktiv war. Der Höhlen-Micha vergaß darüber sogar, dass er schon längst zur letzten Runde geklingelt hatte, und schenkte ohne Ansehen der Person alle Schnapsgläser wieder voll.
    Was viele geahnt hatten, aber niemanden wirklich interessiert hatte: Der Hager war seinem Job und der Doppelbelastung mit seiner Familie seelisch längst nicht mehr gewachsen gewesen. Morgens um sieben in Bad Kissingen ins Auto setzen, den ganzen Tag Akten wälzen, abends dann um sechs zurück nach Hause über die volle Autobahn, die Kinder ins Bett bringen, vor dem Schlafen noch ein paar Klagen abarbeiten – und dann die ganze Mühle von vorn. Da war das Burn-out natürlich vorprogrammiert gewesen.
    Wann genau der Hager angefangen hatte, Akten zu horten, war jetzt im Nachhinein kaum noch zu rekonstruieren. Jedenfalls wurden nach seinem Tod überall – in seinen Dienstschränken, auf dem Schreibtisch, ja sogar unter dem Teppich – unbearbeitete Klageschriften gefunden, Vollstreckungsurkunden und Dossiers, die nicht in die Geschäftsstelle zurückgeleitet worden waren. In allen Akten fanden sich verzweifelte Schreiben von Rechtsanwälten und Bürgern, die nach dem Fortgang ihrer Zivilprozesse fragten. Doch der Hager hatte,
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