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Herr Palomar

Herr Palomar

Titel: Herr Palomar
Autoren: Italo Calvino
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weiter –, die Schwierigkeit kommt daher, daß ich jedesmal, wenn ich sie tadeln oder kritisieren oder ermahnen oder beraten will, sofort daran denken muß, daß auch ich, als ich jung war, mir solche Vorwürfe, Kritiken, Ermahnungen oder Ratschläge zuzog, ohne auf sie zu hören. Die Zeiten waren anders, und daraus ergaben sich große Unterschiede im Verhalten, in der Sprache, in den Sitten und Bräuchen, aber meine geistigen Mechanismen von damals waren nicht sehr verschieden von den ihrigen heute. Also habe ich keinerlei Recht und Befugnis zu reden.
     Lange schwankt Herr Palomar unentschieden zwischen diesen beiden Betrachtungsweisen der Frage. Dann entscheidet er sich: Es gibt keinen Widerspruch zwischen den beiden Positionen. Die Auflösung des Zusammenhangs zwischen den Generationen kommt aus der Unmöglichkeit, die Erfahrungen weiterzugeben und den anderen die Fehler, die man selber gemacht hat, zu ersparen. Den wahren Abstand zwischen zwei Generationen bestimmen die Elemente, die sie gemeinsam haben und die zur zyklischen Wiederholung immer derselben Erfahrungen zwingen – wie in den Verhaltensweisen der Tiere, die als biologisches Erbgut weitergegeben werden. Die wirklichen Differenzen dagegen, die zwischen uns und ihnen bestehen, sind das Ergebnis der irreversiblen Wandlungen, die jede Epoche mit sich bringt, also abhängig von dem historischen Erbe, das wir ihnen übergeben haben, der wahren Erbschaf, für die wir verantwortlich sind, auch wenn wir es manchmal nicht wissen. Darum haben wir ihnen nichts beizubringen: Auf das, was am meisten unseren Erfahrungen ähnelt, können wir keinen Einfuß nehmen; in dem, was unseren Stempel trägt, erkennen wir uns nicht wieder.
     

Das Modell der Modelle
    Im Herrn Palomars Leben gab es eine Zeit, da er folgende Regel hatte: erstens im Kopf ein Modell konstruieren, ein möglichst perfektes, logisches, geometrisches; zweitens dann prüfen, ob das Modell auf die praktischen, in der Erfahrung beobachtbaren Fälle paßt, und drittens schließlich die nötigen Korrekturen anbringen, damit Modell und Realität übereinstimmen. Dieses Verfahren, entwickelt von den Physikern und Astronomen, um die Struktur der Materie und des Universums zu untersuchen, schien Herrn Palomar als einziges zu erlauben, die höchst verwickelten menschlichen Fragen in Angriff zu nehmen, vor allem die der Gesellschaf und der besten Art zu regieren. Es ging darum, sich einerseits die form-  und sinnlose Realität des menschlichen Miteinanders vor Augen zu halten, die nichts als Ungeheuerlichkeiten und Katastrophen erzeugt, und andererseits das Modell eines perfekten gesellschaftlichen Organismus, gezeichnet mit klaren Linien, Geraden, Kreisen, Ellipsen, Parallelogrammen und Diagrammen mit Abszissen und Ordinaten.
     Um ein Modell zu konstruieren – das wußte Herr Palomar –, braucht man etwas, wovon man ausgehen kann, mit anderen Worten, man muß Prinzipien haben, aus denen man durch Deduktion seine Überlegungen herleiten kann. Solche Prinzipien, auch Axiome oder Postulate genannt, wählt man nicht, sondern hat man schon, denn hätte man keine, könnte man gar nicht zu denken beginnen. So hatte denn auch Herr Palomar welche, aber da er weder ein Mathematiker noch ein Logiker war, machte er sich nicht die Mühe, sie zu definieren. Deduzieren war jedoch eine seiner bevorzugten Tätigkeiten, da er sich ihr allein und in Ruhe widmen konnte, ohne besondere Apparaturen, jederzeit und an jedem beliebigen Ort, im Sessel sitzend wie beim Spazierengehen. Induktion dagegen sah er mit einem gewissen Mißtrauen, vielleicht weil ihm seine Erfahrungen ungenau und bruchstückhaft vorkamen.
     Die Konstruktion eines Modells war somit für ihn ein Wunder an Gleichgewicht zwischen den (im dunkeln gelassenen) Prinzipien und der (ungreifbaren) Erfahrung, aber das Resultat mußte eine sehr viel festere Konsistenz haben als die einen wie auch die andere. In einem gut konstruierten Modell muß in der Tat jedes Detail von den anderen so konditioniert sein, daß alles mit absoluter Kohärenz zusammenhält wie in einem Mechanismus, in dem, wenn nur ein einziges Zahnrädchen stehenbleibt, alles zum Stillstand kommt. Das Modell ist per definitionem das, woran es nichts mehr zu ändern gibt, das perfekt Funktionierende – während die Realität, wie wir jeden Tag sehen, nicht funktioniert und überall aus dem Leim geht, so daß einem gar nichts anderes übrig bleibt, als sie zu zwingen, die Form des Modells anzunehmen,
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