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Herr Palomar

Herr Palomar

Titel: Herr Palomar
Autoren: Italo Calvino
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größere Übel und Mißbräuche provozieren und, wenn sie klug von aufgeklärten Reformern erdacht worden sind, dann auch schadlos von deren Nachfolgern praktiziert werden können – Nachfolgern, die vielleicht unfähig sind, vielleicht pflichtvergessen, vielleicht unfähig und pflichtvergessen zugleich.
     Jetzt brauchte er all diese schönen Gedanken nur noch in eine systematische Form zu bringen, doch ein Skrupel hält ihn zurück: Was, wenn daraus ein Modell würde? Also zieht er es vor, seine Überzeugungen lieber in flüssigem Zustand zu lassen, sie fallweise zu überprüfen und daraus die implizite Regel seines Alltagsverhaltens zu machen, im Tun und Lassen, im Wählen und Verwerfen, im Reden und Schweigen.
     

Herrn Palomars Meditationen
Die Welt betrachtet die Welt
    Nach einer Reihe von intellektuellen Mißgeschicken, die hier nicht weiter Erwähnung verdienen, hat Herr Palomar beschlossen, daß seine Haupttätigkeit in Zukunft darin bestehen wird, die Dinge von außen zu betrachten. Leicht kurzsichtig, wie er ist, zerstreut und introvertiert, scheint er vom Temperament her nicht gerade der Typ zu sein, den man gewöhnlich für einen Beobachter hält. Dennoch passiert es ihm immer wieder, daß sich bestimmte Dinge – eine Mauer, eine Muschelschale, ein Blatt, eine Teekanne – in sein Blickfeld drängen, als bäten sie ihn um eine längere und minutiöse Aufmerksamkeit: Fast unwillkürlich beginnt er sie zu betrachten, sein Blick verfängt sich in allen Details, er kann sich nicht mehr von ihnen lösen. So hat er beschlossen, von nun an seine Aufmerksamkeit zu verdoppeln: erstens um sich diese Anrufe, die er von den Dingen erhält, nicht entgehen zu lassen, und zweitens um der Operation des Betrachtens die Bedeutung zu geben, die sie verdient. An diesem Punkt kommt es zu einer ersten Krise. In der Gewißheit, daß ihm die Welt von nun an einen unendlichen Reichtum an zu betrachtenden Dingen enthüllen werde, beginnt Herr Palomar alles, was ihm vor Augen kommt, zu fixieren: Er findet keinen Gefallen daran und hört wieder auf. Es folgt eine zweite Phase, in der er überzeugt ist, daß nur einige Dinge betrachtenswert sind und andere nicht und daß er hingehen muß, um sie zu suchen. Doch dazu muß er sich jedesmal mit Problemen des Wählens und des Verwerfens und der Aufstellung von Präferenzhierarchien befassen, und bald wird ihm klar, daß er auf bestem Wege ist, alles zu ruinieren – wie immer, wenn er sich selbst ins Spiel bringt, das eigene Ich und all die Probleme, die er mit seinem Ich hat.
     
    Aber wie stellt man es an, etwas zu betrachten und dabei das eigene Ich aus dem Spiel zu lassen? Wem gehören die Augen, die da betrachten? Gewöhnlich meint man, das Ich sei jemand, der aus den eigenen Augen herausschaut wie aus einem Fenster, um die Welt zu betrachten, die sich in ihrer ganzen Weite vor ihm erstreckt. Also gibt es ein Fenster, das sich zur Welt auftut. Draußen ist die Welt. Und drinnen? Auch die Welt, was denn sonst? Mit einer kleinen Anstrengung seiner Konzentration gelingt es Herrn Palomar, die Welt vor ihm heranzuholen und an das Fensterbrett zu postieren. Gut, und was bleibt nun draußen vor dem Fenster? Noch immer die Welt, die sich auf einmal verdoppelt hat in eine betrachtende und eine betrachtete Welt. Und er, auch Ich genannt, also Herr Palomar? Ist nicht auch er ein Stück Welt, das ein anderes Stück Welt betrachtet? Oder vielleicht, da es nun eine Außenwelt gibt und eine Welt innen am Fenster, ist das Ich nichts anderes als eben das Fenster, durch das die Welt die Welt betrachtet? Ja, um sich selbst zu betrachten, braucht die Welt Augen: die Augen (und Augengläser) des Herrn Palomar.
     Also wird nun Herr Palomar die Dinge von außen betrachten und nicht von innen. Doch das genügt nicht: Er wird sie auch mit einem Blick betrachten, der von außen kommt und nicht mehr aus seinem Innern. Sofort macht er sich an das Experiment: Nicht er ist es, der nun betrachtet, sondern die Außenwelt, die hinausschaut. Dies festgelegt, blickt er umher in Erwartung einer allgemeinen Verklärung. Von wegen! Weit und breit nur das übliche Alltagsgrau. Er muß alles noch einmal von vorn studieren. Es genügt nicht zu sagen, daß die Außenwelt auf das Außen schaut: Vom betrachteten Ding muß die Linie ausgehen, die es mit dem betrachtenden Ding verbindet.
     Aus dem stummen Haufen der Dinge muß etwas kommen: ein Zeichen, ein Anruf, ein Wink. Ein Ding tritt aus der Masse der anderen Dinge
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