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Herr Palomar

Herr Palomar

Titel: Herr Palomar
Autoren: Italo Calvino
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aufmerksamen Gewissensprüfung und erwartet, daß sich vor seinen Augen nun endlich ein klares, wolkenloses und nebelfreies menschliches Panorama erstreckt, in dem er sich präzise und sicher bewegen kann. Ist es so? Keineswegs. Er verheddert sich in einem Knäuel von Mißverständnissen, Ungewißheiten, Kompromissen und Fehlleistungen, die nichtigsten Fragen werden beängstigend, die gravierendsten platt und banal. Alles, was er sagt oder tut, erscheint ihm linkisch, mißtönend, unentschlossen. Was ist da schiefgelaufen?
     Dies: Als er die Gestirne betrachtete, hatte er sich daran gewöhnt, sich selbst als einen anonymen und körperlosen Punkt zu betrachten, ja fast zu vergessen, daß er existierte. Im Umgang mit den Menschen kann er jetzt nicht umhin, sich selbst ins Spiel zu bringen, aber er weiß nicht mehr, wo sein Selbst sich befindet. Wer es mit anderen Menschen zu tun hat, müßte bei jedem wissen, wie er sich ihm gegenüber einordnen soll und welche Reaktionen der andere in ihm hervorruft – Aversion oder Zuneigung, Unterwerfung oder Abwehr, Neugier, Mißtrauen oder Gleichgültigkeit, Überlegenheits-  oder Minderwertigkeitsgefühle, Schüler-  oder Lehrerverhalten, Schauspieler-  oder Zuschauerhaltungen –, um anhand der eigenen und der Gegenreaktionen des anderen die Regeln des Spiels zu bestimmen, die Züge und Gegenzüge im Verlauf der Partie. Für all das müßte er aber, ehe er sich daran macht, die anderen zu beobachten, erst einmal wissen, wer er selber ist. Die Kenntnis der anderen hat nämlich die Besonderheit, daß sie nicht ohne Selbsterkenntnis zustandekommt, und eben diese ist es, die Herrn Palomar fehlt. Nicht nur Selbsterkenntnis tut not, auch Selbstverständnis, Einverständnis mit den eigenen Mitteln und Zielen und Trieben, und das impliziert die Fähigkeit, auf die eigenen Wünsche und Handlungen einen bestimmenden Einfuß zu nehmen, der sie kontrolliert und lenkt und nicht restringiert oder unterdrückt. Die Leute, an denen Herr Palomar die Richtigkeit jedes Wortes und die Natürlichkeit jeder Geste beneidet, leben, noch ehe sie mit dem Universum in Frieden sind, mit sich selber in Frieden. Er jedoch, der sich selber nicht mag, ist einer unmittelbaren Begegnung mit sich selber stets aus dem Wege gegangen – eben deswegen hatte er sich zu den Galaxien geflüchtet. Jetzt begreif er, daß er besser damit begonnen hätte, einen inneren Frieden zu finden. Das Universum kann vielleicht ganz gut allein zurechtkommen, er sicher nicht. Der Weg, der ihm jetzt noch offensteht, ist folgender: Er wird sich von nun an der Selbsterkenntnis widmen, die eigene innere Geographie erkunden, das Diagramm seiner Seelenregungen aufzeichnen, um daraus die gesuchten Formeln und Theoreme abzuleiten, er wird sein Teleskop auf die Kreisbahnen richten, die der Lauf seines Lebens zeichnet, statt auf die der Sternbilder. Wir erkennen nichts, was außer uns ist, wenn wir uns selbst überspringen – denkt er jetzt –, das Universum ist ein Spiegel, in dem wir nur das betrachten können, was wir gelernt haben, in uns selbst zu erkennen.
     So vollendet sich auch diese neue Phase seiner Wanderung auf der Suche nach Weisheit. Endlich wird er den Blick ins eigene Innere richten können. Was wird er sehen? Wird ihm seine Innenwelt als ein immenses ruhiges Kreisen einer Spirale von Lichtern erscheinen? Wird er Sterne und Planeten still dahinfahren sehen auf den Parabeln und Ellipsen, die den Charakter und das Schicksal bestimmen? Wird er eine Kugel von unendlichem Ausmaß betrachten, die das Ich als Zentrum hat und das Zentrum an jedem Punkt?
     Er öffnet die Augen. Was vor seinem Blick erscheint, kommt ihm altbekannt und alltäglich vor: Straßen voller Passanten, die Eile haben und sich rempelnd vorandrängeln, ohne einander in die Augen zu sehen, zwischen hohen scharfkantigen und abgeblätterten Mauern. In der Ferne sprüht der gestirnte Himmel fiebrige Funken wie ein ins Stocken geratender Mechanismus, der zuckt und knirscht in all seinen nicht geölten Gelenken, Vorposten eines wankenden Universums, hektisch und ruhelos wie er selbst.
     

Versuch, tot sein zu lernen
    Herr Palomar beschließt, von nun an zu tun, als wäre er tot, um zu sehen, wie die Welt ohne ihn weitergeht. Seit einiger Zeit ist ihm aufgefallen, daß es zwischen ihm und der Welt nicht mehr so ist wie früher: Wenn ihm früher schien, daß sie etwas voneinander erwarteten, er und die Welt, so kann er sich jetzt nicht mehr recht erinnern, was
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