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Herr Palomar

Herr Palomar

Titel: Herr Palomar
Autoren: Italo Calvino
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strebt und der andere von links nach rechts, wobei der Ausgangs-  oder Zielpunkt ihres Auseinander-  oder Zusammenlaufens jene Spitze im Negativ ist, die dem Vormarsch der Flügel zwar folgt, aber sie nie zu erreichen vermag und stets ihrer wechselseitigen Überlappung unterworfen bleibt, bis sie von einer anderen Welle eingeholt wird, einer stärkeren, doch mit demselben Problem der Divergenz-Konvergenz, und schließlich von einer noch stärkeren, die den Knoten löst, indem sie ihn einfach zerschlägt. Dem Muster der Wellenbewegungen folgend schiebt der Strand kaum angedeutete Zungen ins Wasser vor, die sich in mehr oder weniger überspülten Sandbänken fortsetzen, je nachdem, wie die Strömungen sie im Spiel der Gezeiten bilden und wieder zerstören. Eine dieser fachen Sandzungen ist es, die Herr Palomar sich als Beobachtungsstandpunkt gewählt hat, weil die Wellen schräg von rechts und links über sie schwappen und, wenn sie den Buckel des halb im Wasser befindlichen Teils überspülen, in der Mitte zusammentreffen. Um zu erkennen, wie eine Welle beschaffen ist, muß man daher diese gegeneinander gerichteten Schübe beachten, die sich in gewisser Weise neutralisieren und in gewisser Weise summieren und schließlich ein allgemeines In-  und Durcheinander sämtlicher Schübe und Gegenschübe im gewohnten Zerfließen des Schaumes erzeugen.
     Herr Palomar sucht nun zunächst sein Beobachtungsfeld zu begrenzen: Wenn er ein Quadrat von, sagen wir, zehn Metern Breite am Strand auf zehn Meter Tiefe ins Meer überblickt, kann er ein Inventar aller Wellenbewegungen aufstellen, die sich darin mit wechselnder Häufigkeit in einer gegebenen Zeitspanne wiederholen. Das Schwierige ist, die Grenzen dieses Quadrats im Blick zu behalten, denn nimmt er zum Beispiel als entfernteste Seite von seinem Standpunkt die Kammlinie einer näherkommenden Welle, so verdeckt diese Linie, während sie näherkommt und sich dabei hebt, vor seinen Augen all das, was hinter ihr liegt, und der zu prüfende Raum klappt auf und preßt sich im gleichen Zuge zusammen.
     Dennoch läßt sich Herr Palomar nicht entmutigen, und jeden Augenblick glaubt er auch schon, glücklich alles gesehen zu haben, was er von seinem Beobachtungsstandpunkt sehen kann, doch immer wieder springt ihm dann etwas ins Auge, was ihm zuvor noch entgangen war. Hätte er nicht diese Ungeduld, ein komplettes und definitives Ergebnis seiner visuellen Operation zu erzielen, so wäre das Wellenbetrachten für ihn eine sehr erholsame Übung und könnte ihn vor Neurosen bewahren, vor Herzinfarkten und Magengeschwüren. Und vielleicht könnte es der Schlüssel sein, um die Komplexität der Welt in den Griff zu bekommen durch ihre Reduktion auf den einfachsten Mechanismus.
     Doch jeder Versuch zur Präzisierung dieses Modells muß die Rechnung mit einer langgezogenen Welle machen, die quer zu den Flügeln und parallel zur Küste anrollt, wobei sie einen durchgängigen und nur leicht erhobenen Kamm vorangleiten läßt. Die kleinen Sprünge der schräg zum Ufer drängenden Wellen stören nicht den gleichmäßigen Elan dieses festen und glatten Kammes, der sie im rechten Winkel schneidet, und man weiß nicht, wohin er geht noch woher er kommt. Vielleicht aus einer leichten Brise vom Land, die das Wellenspiel an der Oberfläche bewegt, entgegen den Tiefenströmungen aus den Wassermassen des offenen Meeres. Doch diese langgezogene Welle, die aus der bewegten Luft entsteht, nimmt unterwegs auch die schrägen Schübe mit auf, die aus dem Wasser entstehen, und leitet sie um und lenkt sie in ihre Richtung und trägt sie mit sich voran. So wächst sie beständig weiter und gewinnt solange an Stärke, bis der unentwegte Zusammenprall mit den quer-  und gegenläufigen Wellen sie langsam schwächt und schließlich verschwinden läßt, oder sie dreht und windet, bis sie zerfließt in einer der vielen Dynastien schräger Wellen, um mit ihnen ans Ufer zu klatschen.
     Konzentriert man die Aufmerksamkeit auf einen Aspekt, so springt er mit einem Satz in den Vordergrund und erfüllt das ganze Tableau, wie bei jenen Bildern, vor denen man nur die Augen zu schließen braucht, und wenn man sie wieder öffnet, hat sich die Perspektive verändert. Jetzt, in diesem Durcheinander verschieden gerichteter Wellenkämme, erscheint das Gesamtbild zerstückelt in lauter Einzelbilder, die auftauchen und verschwinden. Hinzu kommt, daß auch der Rückfuß jeder einzelnen Welle noch eine gewisse Schubkraft hat, die
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