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Herr Palomar

Herr Palomar

Titel: Herr Palomar
Autoren: Italo Calvino
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es da zu erwarten gab, im Guten oder im Schlechten, und warum ihn diese Erwartung in einer ständigen Unruhe hielt.
     Eigentlich müßte er jetzt ein Gefühl der Erleichterung haben, da er sich nicht mehr zu fragen braucht, was die Welt ihm bescheren wird, und er müßte auch fühlen, wie erleichtert die Welt ist, die sich nicht mehr um ihn zu kümmern braucht. Doch bereits die Erwartung dieser begehrten Ruhe macht Herrn Palomar unruhig.
     Tot sein ist also gar nicht so leicht, wie es scheinen mag. Zunächst einmal darf man es nicht verwechseln mit nicht mehr vorhanden sein, einem Zustand, der auch die endlose Zeitspanne vor dem Geborenwerden erfüllt, die nur scheinbar spiegelbildlich der ebenso endlosen nach dem Sterben entspricht. Denn bevor wir geboren werden, sind wir ein Teil jener zahllosen Möglichkeiten, die sich vielleicht eines Tages verwirklichen werden, doch wenn wir erst einmal gestorben sind, können wir uns in keiner Zeit mehr verwirklichen, weder in der Vergangenheit (zu der wir dann ganz gehören, aber die wir nicht mehr beeinflussen können) noch in der Zukunft (die uns, auch wenn wir sie beeinflußt haben, verboten bleibt). Herrn Palomars Fall liegt in Wirklichkeit freilich einfacher, da seine Fähigkeit, etwas oder jemanden zu beeinflussen, nie von Belang war. Die Welt kommt bestens ohne ihn aus, er kann sich in aller Ruhe als tot betrachten und muß nicht einmal seine Gewohnheiten ändern. Das Problem ist die Änderung nicht in dem, was er tut, sondern in dem, was er ist, genauer: in dem, was er im Verhältnis zur Welt ist. Früher hatte er unter Welt die Welt plus seine Person verstanden, jetzt handelt es sich um ihn plus die Welt minus ihn.
     Heißt Welt minus ihn nun das Ende der Unruhe? Eine Welt, in der die Dinge unabhängig von seiner Präsenz und seinen Reaktionen geschehen, nach einer eigenen Gesetzlichkeit oder Notwendigkeit oder Ratio, die ihn nicht betrifft? Die Welle schlägt an die Klippe und höhlt den Stein, die nächste Welle rollt an, die übernächste und noch eine … Ob er nun da und vorhanden ist oder nicht, alles geht weiter seinen Gang. Die Erleichterung, tot zu sein, müßte hierin bestehen: Wenn jener Unruheklecks, den unser Vorhandensein darstellt, ausgelöscht ist, zählt als einziges nur noch die Ausbreitung und Aufeinanderfolge der Dinge unter der Sonne in ihrer unerschütterlich heiteren Ruhe. Alles ist Ruhe oder tendiert zur Ruhe, auch die Gewitterstürme, die Erdbeben, die Vulkanausbrüche … Doch war nicht auch ebendies schon die Welt, als er noch da war? Als jeder Sturm den Frieden des Nachher in sich trug, den Moment vorbereitete, da alle Wellen ans Ufer geschlagen sein werden und der Wind seine Kraft erschöpft haben wird? Vielleicht ist tot sein nur eintauchen in den Ozean jener Wellen, die immer Wellen bleiben, und es ist zwecklos zu warten, bis das Meer sich beruhigt.
     
    Der Blick eines Toten ist immer ein bißchen tadelnd. Orte, Situationen, Gelegenheiten sind mehr oder minder dieselben, die man schon kannte, und sie wiederzuerkennen, verschafft einem immer eine gewisse Befriedigung, aber zugleich bemerkt man zahllose kleine oder große Veränderungen, die man an und für sich auch schon akzeptieren könnte, wenn sie einer logischen, kohärenten Entwicklung entsprächen, doch sie erscheinen willkürlich und regellos, und das stört einen, vor allem weil man immer versucht ist einzugreifen, um die Korrektur anzubringen, die man für nötig hält, doch man kann es nicht, weil man ja tot ist. Daher dann ein Widerstreben, fast eine Befangenheit, aber zugleich eine Art Überheblichkeit, wie bei einem, der weiß, daß nur die eigene, selbstgemachte Erfahrung zählt und alles übrige nicht so wichtig zu nehmen ist. Und bald entsteht auch ein dominantes Gefühl, das jeden Gedanken beherrscht, nämlich die Erleichterung zu wissen, daß alle Probleme nur die Probleme der anderen sind, ihre Sache. Den Toten müßte eigentlich alles egal sein, da nicht mehr sie die Aufgabe haben, darüber nachzudenken, und so unmoralisch das klingen mag, gerade in dieser Nichtverantwortlichkeit finden sie ihre Freude.
     Je näher Herrn Palomars Seelenzustand dem hier beschriebenen kommt, desto natürlicher wird ihm die Vorstellung, tot zu sein. Gewiß, er hat noch nicht jene abgeklärte Distanz gefunden, die er den Toten zu eigen glaubte, auch keine Vernunft, die über alles Erklären hinausgeht, auch keinen Ausgang aus der eigenen Begrenztheit wie aus einem Tunnel, der sich zu
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