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Herr Palomar

Herr Palomar

Titel: Herr Palomar
Autoren: Italo Calvino
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probiert er sie an und stellt fest: Der eine ist größer als der andere und fällt ihm vom Fuß. Er erinnert sich an den alten Händler in einem Winkel jenes Basars, wie er auf den Fersen hockte vor einem Haufen Pantoffeln in allen Größen, kunterbunt durcheinander; er sieht ihn vor sich, wie er in dem Haufen wühlte, um einen Pantoffel in der passenden Größe zu finden, wie er ihn drängte, den empfohlenen anzuprobieren, wie er dann weiterwühlte und ihm den zweiten reichte, den er ohne Anprobe nahm.
     Vielleicht geht jetzt gerade ein anderer mit zwei verschieden großen Pantoffeln durch jenes Land – denkt Herr Palomar und sieht einen hageren Schatten durch die Wüste hinken, mit einem zu weiten Pantoffel, der ihm bei jedem Schritt abgleitet, oder mit einem zu engen, der ihm den Fuß einschnürt. – Vielleicht denkt auch er jetzt gerade in diesem Moment an mich und hofft, daß wir uns begegnen, um tauschen zu können. Das Verhältnis, das uns verbindet, ist konkreter und klarer als ein großer Teil der Beziehungen, die sich zwischen Menschen bilden. Und doch werden wir uns nie begegnen. – Herr Palomar beschließt, die beiden verschieden großen Pantoffeln weiter zu tragen, aus Solidarität mit seinem unbekannten Unglücksgenossen, um diese so seltene Komplementarität lebendig zu halten, diese symmetrische Spiegelung hinkender Schritte über Kontinente hinweg.
     Er verharrt eine Weile bei der Vorstellung dieses Bildes, obwohl er weiß, daß es nicht der Wahrheit entspricht. Eine Lawine serienmäßig genähter Pantoffeln ergießt sich periodisch über den Haufen des alten Händlers, um ihn wieder aufzufüllen. Zwar werden tief unten auf dem Grunde des Haufens stets zwei einzelne, ungepaarte Pantoffeln bleiben, aber solange der Alte seinen Vorrat nicht ausschöpft (und vielleicht wird er ihn nie ausschöpfen, und wenn er gestorben ist, geht die Ware an seine Erben über und an die Erben der Erben), braucht er nur in dem Haufen zu wühlen, und stets wird er einen Pantoffel finden, der zu einem anderen Pantoffel paßt. Nur bei einem zerstreuten Kunden wie Herrn Palomar konnte ein Irrtum passieren, aber es können Jahrhunderte vergehen, bis sich die Folgen dieses Irrtums auf einem anderen Kunden jenes alten Basars niederschlagen. Jeder Zersetzungsprozeß im Ordnungsgefüge der Welt ist irreversibel, aber die Auswirkungen des Prozesses werden verdeckt und hinausgezögert durch die Staubwolke der großen Zahlen, die praktisch unbegrenzte Möglichkeiten zu neuen Symmetrien, Kombinationen und Paarungen in sich birgt.
     Doch wenn nun mein Irrtum – denkt Herr Palomar – nur einen früheren Irrtum ausgelöscht hätte? Wenn meine Zerstreutheit nicht Unordnung, sondern Ordnung gestiftet hätte? Vielleicht wußte der Händler sehr wohl, was er tat, als er mir den einzelnen Pantoffel gab, vielleicht hat er damit eine uralte Disparität behoben, die sich seit Jahrhunderten in seinem Haufen verbarg, weitergegeben von Generation zu Generation in jenem Basar?
     Der unbekannte Genosse hinkte vielleicht in einer anderen Epoche, die Symmetrie ihrer Schritte spiegelt sich nicht nur über Kontinente hinweg, sondern auch über Jahrhunderte. Was indessen kein Grund für Herrn Palomar ist, sich weniger solidarisch mit ihm zu fühlen. So schlurft er weiter mühsam umher, um seinem Schatten Erleichterung zu verschaffen.
     

Herr Palomar in Gesellschaf
Vom Sich auf die Zunge beißen
    In einer Zeit und in einem Lande, da alle sich Arme und Beine ausreißen, um ihre Ansichten oder Urteile zu verkünden, ist es Herrn Palomar zur Gewohnheit geworden, sich immer erst dreimal auf die Zunge zu beißen, ehe er irgend etwas behauptet. Wenn er von dem, was er sagen wollte, auch beim dritten Biß auf die Zunge noch überzeugt ist, sagt er es, andernfalls hält er den Mund. Tatsächlich verbringt er of Wochen, ja ganze Monate schweigend. An guten Gelegenheiten zum Schweigen fehlt es ihm nie, doch kommt es auch vor, daß er später bedauert, etwas nicht gesagt zu haben, was er im rechten Moment hätte sagen können. Nämlich in jenen seltenen Fällen, wenn ihm aufgeht, daß die Fakten bestätigt haben, was er gedacht hat, und daß er, hätte er seinen Gedanken geäußert, vielleicht einen gewissen, wenn auch nur minimalen Einfuß auf das Geschehen hätte ausüben können. In solchen Fällen gerät er in einen Zwiespalt zwischen der Genugtuung, richtig gedacht zu haben, und einem Schuldgefühl über seine allzu große Zurückhaltung. Beide
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