Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herr Palomar

Herr Palomar

Titel: Herr Palomar
Autoren: Italo Calvino
Vom Netzwerk:
Stufen zur Plattform der Pyramide hinauf und scharen sich um die Säulen, der Lehrer erklärt, zu welcher Kultur die Säulen gehören, aus welchem Jahrhundert sie stammen, aus welchem Stein sie gehauen sind, dann schließt er: »Man weiß nicht, was sie bedeuten«, und die Schülerschar folgt ihm wieder hinunter. Zu jeder Statue, zu jeder Figur in einem Flachrelief oder auf einer Säule macht der Lehrer ein paar knappe sachliche Angaben, und jedesmal fugt er dann unweigerlich hinzu: »Man weiß nicht, was es bedeuten soll.«
     Hier zum Beispiel ist ein sogenannter Chacmool, ein Statuentypus, dem man recht häufig begegnet: eine halb liegende Menschenfigur, die eine fache Schale trägt. Auf diesen Schalen, sagen übereinstimmend die Experten, wurden die blutigen Herzen der bei den Menschenopfern Getöteten präsentiert. An und für sich könnte man in diesen Figuren auch gutmütige, komisch-groteske Fratzen sehen, aber jedesmal, wenn Herr Palomar eine sieht, läuft ihm unwillkürlich ein Schauder über den Rücken.
     Die Schülerschar kommt vorbei. Der junge Lehrer erklärt: »Esto es un chacmool. No se sabe lo que quiere decír«, und geht weiter.
     Immer wieder begegnet Herr Palomar, obwohl er den Erläuterungen seines Freundes folgt, am Ende der Schülergruppe und hört auf die Worte des Lehrers. Er ist fasziniert von der Fülle an mythologischen Querverweisen, mit denen sein kundiger Freund zu hantieren weiß, das Spiel des Interpretierens, die allegorische Deutung sind ihm stets als eine souveräne Übung des Geistes erschienen. Doch er fühlt sich auch von der entgegengesetzten Haltung des Schullehrers angezogen. Was ihm zunächst als ein schroffer Ausdruck von Desinteresse erschienen war, enthüllt sich ihm langsam als ein wohlüberlegter pädagogischer Plan, eine bewußt gewählte Methode dieses ernsten und gewissenhaften jungen Erziehers, eine Regel, von der er nicht abgehen will: Ein Stein, eine Figur, ein Zeichen, ein Wort, die uns isoliert von ihrem Kontext erreichen, sind nichts als eben nur dieser Stein, diese Figur, dieses Zeichen oder Wort; wir können versuchen, sie als solche zu definieren und zu beschreiben, aber mehr nicht; wenn sie hinter dem Antlitz, das sie uns zeigen, noch ein verborgenes Antlitz haben, muß es uns verborgen bleiben. Die Weigerung, mehr zu begreifen als das, was diese Steine uns zeigen, ist vielleicht die einzig mögliche Art und Weise, ihr Geheimnis zu achten. Es erraten zu wollen, ist Anmaßung, Verrat an ihrer verlorengegangenen wahren Bedeutung.
     Hinter der Pyramide gelangt man in einen Gang oder Korridor zwischen zwei Mauern, eine aus gestampftem Lehm, die andere aus behauenem Stein: die Mauer der Schlangen. Sie ist vielleicht das schönste Stück in Tula: ein Fries als Flachrelief, bestehend aus lauter Schlangen, von denen jede einen menschlichen Schädel im Maul hält, als wollte sie ihn gerade verschlingen.
     Die Schüler kommen vorbei. Der Lehrer erklärt: »Dies ist die Mauer der Schlangen. Jede Schlange hält einen Schädel im Maul. Man weiß nicht, was sie bedeuten.«
     Herrn Palomars Freund kann nicht länger an sich halten: »Aber ja doch, das weiß man sehr wohl! Es ist die Kontinuität von Leben und Tod, die Schlangen bedeuten das Leben und die Schädel den Tod: das Leben, das Leben ist, weil es den Tod in sich trägt, und den Tod, der Tod ist, weil es ohne Tod kein Leben gibt …«
     Die Schüler stehen baff mit offenem Mund, die schwarzen Augen weit aufgerissen. Herr Palomar denkt: Jede Übersetzung verlangt nach einer weiteren Übersetzung und so fort. Er fragt sich: Was bedeuteten Tod und Leben, Kontinuität und Übergang für die alten Tolteken? Und was können sie für diese Kinder bedeuten? Und für mich? – Doch er weiß: Nie könnte er das Bedürfnis in sich ersticken, zu übersetzen, überzugehen aus einer Sprache in eine andere, von konkreten Figuren zu abstrakten Worten, von abstrakten Symbolen zu konkreten Erfahrungen, wieder und wieder ein Netz von Analogien zu knüpfen. Nicht zu interpretieren ist unmöglich, genauso unmöglich wie sich am Denken zu hindern.
     Kaum sind die Schüler um eine Biegung verschwunden, hebt die beharrliche Stimme des kleinen Lehrers wieder an: »No es verdad, es ist nicht wahr, was dieser Señor euch gesagt hat. Man weiß nicht, was sie bedeuten.«
     

Der einzelne Pantoffel
    Auf einer Reise in ein orientalisches Land hat Herr Palomar sich ein Paar Pantoffeln gekauft, in einem Basar. Nach Hause zurückgekehrt,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher