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Herr Palomar

Herr Palomar

Titel: Herr Palomar
Autoren: Italo Calvino
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tausend Augen blickt und auf ihren tausend Füßen die obligate Besichtigungstour absolviert.
     Bleibt also nur zu folgern, daß die mentalen Zen-Techniken zur Erlangung der äußersten Demut, der totalen Loslösung von aller Possessivität und Hofart, als unabdingbaren Hintergrund das aristokratische Privileg verlangen, den Individualismus mit viel Raum und Zeit um sich her, den Horizont einer sorglosen Einsamkeit?
     Nein, diese Folgerung, die bloß zur üblichen Klage über ein verlorenes Paradies führt, das vom Ansturm der Massenzivilisation überrollt worden ist, klingt Herrn Palomar zu einfach. Er geht lieber einen schwereren Weg und versucht zu erfassen, was ihm der Zen-Garten hier und heute zu sehen gibt, in der einzigen Situation, in der man ihn heute betrachten kann, den Hals gereckt zwischen zahllosen anderen Hälsen.
     Was sieht er? Er sieht die menschliche Gattung in der Ära der großen Zahlen, ausgedehnt zu einer nivellierten Masse, die gleichwohl noch immer aus einzelnen Individualitäten besteht, wie dieses Meer von Sandkörnern, das die Oberfläche der Welt überschwemmt … Er sieht die Welt dessenungeachtet weiter die steinernen Buckel ihrer gegen das Schicksal der Menschheit indifferenten Natur vorzeigen, ihre harte Substanz, nicht reduzierbar auf menschliches Maß … Er sieht die Formen, zu denen der menschliche Sand gerinnt, tendenziell den Bewegungslinien folgen, als Zeichnungen, die Gleichmaß und Flüssigkeit miteinander verbinden wie die geradlinigen oder kreisrunden Harkspuren eines Rechens … Und zwischen der Menschheit-als-Sand und der Welt-als-Stein ist eine mögliche Harmonie zu erahnen, wie zwischen zwei inhomogenen Harmonien: jener des Nichtmenschlichen in einem Kräftegleichgewicht, das keinem Plan zu entsprechen scheint, und jener der menschlichen Strukturen, die nach der Rationalität einer geometrischen oder musikalischen Komposition strebt, ohne sie je zu erreichen ...
     

Schlangen und Schädel
    In Mexiko besucht Herr Palomar die Ruinen von Tula, der alten Toltekenhauptstadt. Ein mexikanischer Freund begleitet ihn, ein begeisterter und beredter Kenner der präkolumbianischen Kulturen, der ihm wunderschöne Legenden von Quetzalcoatl erzählt. Bevor er ein Gott wurde, war Quetzalcoatl ein König, und hier in Tula stand sein Palast; erhalten geblieben ist davon eine Anzahl stumpf abgebrochener Säulen, die sich rings um ein Impluvium verteilen, ein bißchen wie in einer altrömischen Villa.
     Der Tempel des Morgensterns ist eine abgeflachte Stufenpyramide, auf deren breiter Plattform sich vier hohe zylindrische Säulenfiguren erheben, sogenannte »Atlanten«, die den Gott Quetzalcoatl als Morgenstern darstellen (indem sie einen Schmetterling, das Symbol des Sterns, auf dem Rücken tragen), außerdem vier Reliefpfeiler, die den Gefederten Schlangengott darstellen, also wieder denselben Gott, diesmal in Tiergestalt.
     All das kann man einfach nur glauben. Andererseits wäre es schwierig, das Gegenteil zu beweisen. In der altmexikanischen Archäologie stellt jede Figur, jeder Gegenstand, jedes Detail eines Flachreliefs etwas dar, alles bedeutet etwas, das etwas bedeutet, das seinerseits etwas bedeutet. Ein Tier bedeutet einen Gott, der einen Stern bedeutet, der ein Element bedeutet oder eine menschliche Eigenschaf, und so weiter. Wir befinden uns in der Welt der Bilderschrift. Wenn die Tolteken schreiben wollten, zeichneten sie Figuren, aber auch wenn sie einfach nur zeichneten, war es, als ob sie schrieben: Jede Figur erscheint wie ein Bilderrätsel, ein zu entziffernder Rebus. Selbst noch die abstraktesten, rein geometrischen Friese auf einer Tempel wand können als Sonnenstrahlen gedeutet werden, wenn man darin ein Motiv mit unterbrochenen Linien sieht, oder man kann eine Zahlenabfolge in ihnen lesen, je nachdem, wie sich die Mäander verschlingen. Hier in Tula wiederholen die Flachreliefs stilisierte Tiere: Jaguare, Coyoten. Der mexikanische Freund erklärt Herrn Palomar jeden Stein, übersetzt ihn in kosmische Mythenerzählungen, Allegorien, moralische Reflexionen.
     In den Ruinen zieht eine Schülergruppe umher: schmächtige Buben mit indianischen Zügen, vielleicht Nachkommen der Erbauer dieser Tempel, gekleidet in eine schlichte weiße Uniform mit blauen Halstüchern, wie sie die Pfadfinder tragen. Ein junger Lehrer führt sie umher, nicht viel größer als die Buben und kaum viel älter, mit dem gleichen runden und ruhigen braunen Gesicht. Sie steigen die hohen
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