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Herr Palomar

Herr Palomar

Titel: Herr Palomar
Autoren: Italo Calvino
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gesagt: eine Menge, die einerseits die Untermenge derjenigen zu ihr gehörigen Gräser enthält, die auch zum Rasen gehören, und andererseits die Untermenge derjenigen, die dem Rasen äußerlich sind. Es weht der Wind, es fliegen die Samen und Pollen, die Relationen zwischen den Untermengen verschwimmen …
     Herr Palomar ist schon bei einem anderen Gedankengang: Ist das, was wir sehen, wirklich »der Rasen«, oder sehen wir einen Grashalm plus einen Grashalm plus einen Grashalm … ? Was wir »den Rasen sehen« nennen, ist nur eine ungefähre Wahrnehmung unserer groben Sinne: Eine Menge existiert nur als ein Ensemble distinkter Elemente. Es geht nicht darum, sie zu zählen, die Zahl hat keine Bedeutung. Es kommt darauf an, die einzelnen Pflänzchen mit einem einzigen Blick zu erfassen, jedes für sich in seiner Besonderheit, seiner Eigenart und seiner Differenz. Und sie nicht bloß zu sehen: sie zu denken. Statt allgemein »Rasen« zu denken, jenen Stiel mit zwei Kleeblättern dort zu denken, jenes lanzenförmige, leicht gekrümmte Hälmchen, jene zarte Dolde …
     Herr Palomar ist abgeschweift, er jätet kein Unkraut mehr, er denkt nicht mehr an den Rasen – er denkt an das Universum. Er versucht, all das, was er über den Rasen gedacht hat, auf das Universum zu übertragen. Das Universum als regelmäßiger, wohlgeordneter Kosmos oder als chaotische Wucherung. Das vielleicht endliche, aber unzählbare Universum, dessen Grenzen verschwimmen und in dem sich weitere Universen öffnen. Das Universum als Gesamtmenge oder Ensemble von Himmelskörpern, Sternennebeln und Sternenstaub, Kraftfeldern, Feldüberschneidungen, Mengen von Mengen …
     

Herr Palomar betrachtet den Himmel
Der Mond am Nachmittag
    Niemand betrachtet den Mond am Nachmittag, und dabei hätte er um diese Zeit unsere Aufmerksamkeit am dringendsten nötig, da seine Existenz noch in Frage steht. Er ist nur ein weißlicher Schatten, der aus dem tiefklaren Blau des Himmels auftaucht, überflutet von Sonnenlicht; wer garantiert uns, daß er es auch diesmal schaffen wird, Form anzunehmen und richtig zu scheinen? Er ist so zart und bleich und zerbrechlich, nur auf der einen Seite beginnt er, eine klare Kontur anzunehmen wie ein sichelförmiger Bogen, der Rest ist noch ganz von Himmel durchtränkt. Er ist wie eine durchsichtige Hostie. Oder wie eine halbaufgelöste Tablette, nur daß hier der weiße Kreis sich nicht auflöst, sondern verdichtet und langsam verfestigt auf Kosten der blaugrauen Flecken und Schatten, von denen man nicht so recht weiß, ob sie zur Geographie des Mondes gehören oder gischtige Spritzer des Himmels sind, die den porösen Trabanten noch wie einen Schwamm durchtränken. In dieser Phase erscheint der Himmel noch sehr kompakt und konkret, und man kann nicht mit Sicherheit sagen, ob es seine strafe und ebenmäßige Wölbung ist, von der diese bleiche runde Figur sich abhebt, deren Konsistenz kaum fester ist als die der Wolken, oder ob da im Gegenteil eine Korrosion im Grundgefüge zum Vorschein kommt, ein Sprung in der Kuppel, ein Loch zum dahinterliegenden Nichts. Die Unsicherheit wird noch verstärkt durch die Unregelmäßigkeit der Figur, die auf der einen Seite Relief gewinnt (wo die Strahlen der sinkenden Sonne sie besser erreichen) und auf der anderen in einer Art Zwielicht verharrt. Und da die Grenze zwischen den beiden Zonen nicht klar ist, wirkt das Ganze nicht wie ein perspektivisch gesehener Körper, sondern eher wie eins jener Mondfigürchen in den Kalendern, die ein weißes Profil innerhalb eines kleinen schwarzen Kreises zeigen. Dagegen wäre gewiß nichts einzuwenden, ginge es um einen schmalen Halbmond und nicht um einen fast runden Vollmond. Als solcher nämlich entpuppt er sich nun, je schärfer sein Rand sich gegen den Himmel abhebt und je voller seine Rundung hervortritt, mit ein paar leichten Dellen am östlichen Rand.
     
    Unterdessen hat sich das Blau des Himmels über Blauviolett zu Lila verfärbt (die Strahlen der Sonne sind rot geworden), und dann über Aschgrau weiter zu Dunkelgrau, und jede Verfärbung des Himmels hat das Weiß des Mondes ein bißchen stärker hervortreten lassen, und der leuchtende Teil in seinem Innern hat sich mehr und mehr ausgedehnt, um schließlich die ganze Scheibe zu füllen. Es ist, als würden die Phasen, die der Mond während eines Monats durchläuft, im Innern dieses vollen oder buckligen Mondes noch einmal durchlaufen, in den Stunden von seinem Aufgang bis zu seinem Untergang,
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