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Herr Möslein ist tot (German Edition)

Herr Möslein ist tot (German Edition)

Titel: Herr Möslein ist tot (German Edition)
Autoren: Tatjana Meissner
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eine Schlange ist, wird angestellt!«, reihen wir uns ein und rollen, unterbrochen von Wartestaus, stockend Richtung Westberlin. Als uns nur noch 100 Meter vom Grenzübergang trennen, kommt unsere Karawane vor einer großen Menschentraube zum Stehen. Nichts geht mehr. Ich boxe Trabis Lenkrad, weil ich befürchte, nicht zum verabredeten Zeitpunkt im Goldenen Apfel sein zu können. Betty und Ingo reden wild durcheinander. Plötzlich ruft eine metallene Stimme: »Liebe Bürgerinnen und Bürger, liebe Ostberliner! Bitte halten Sie die Straße für den Grenzverkehr offen!« Erschreckt schauen wir in die Richtung, aus der die Stimme kommt. Direkt neben uns, auf dem Mittelstreifen, steht ein Mann, bekleidet mit dunklem Mantel, weißem Hemd und Schlips. Er trägt eine Glatze auf dem Kopf und eine Flüstertüte in der Hand.
    »Mensch, das ist ja Walter Momper!«, ruft Betty ganz aus dem Häuschen. »Tatsächlich. Aber warum hat er auf dem Gebiet der DDR den roten Schal nicht um?«, frage ich verblüfft. »Werden sie ihm schon geklaut haben!«, kichert Ingo. Mompers Worte haben geholfen. Die Papp-Karawane rollt, und nur wenige Minuten später sind wir auf dem Ku’damm, wo sich genau dasselbe wiederholt, wie bei meinem ersten Mauerfall. Nur, dass diesmal Betty dabei ist. Die jubelnde und feiernde Menge verhindert ein schnelles Vorwärtskommen. Ich beobachte die Feiernden wie einen grell-bunten Stummfilm. Betty und Ingo lachen, nehmen Geld, Blumen, hysterisches Freudenausbrüche und heftige Empörung durch das heruntergelassene Beifahrerfenster entgegen.
    In meinem Kopf summen derweil Millionen Bienen, ohne sich niederzulassen. In einer entlegenen Region meines Gehirns nehmen Neurotransmitter zaghaft ihre Arbeit auf. Plötzlich zieht sich mir, genau wie damals nach dem Mauerfall, die Angst vor einer nichtkalkulierbaren Zukunft wie eine Schlinge um den Hals. Dabei weiß ich doch diesmal genau, was passieren wird. Ich weiß, dass ich mich zurechtfinden werde in dieser mir bis dahin unbekannten Welt. Ich werde jede sich bietende Chance nutzen, werde in Berufen arbeiten, die ich bis dahin teilweise nicht einmal kannte. Ich werde Pressesprecher im Kabarett, später als Moderatorin beim MDR engagiert, werde Bücher schreiben, als Comedian in großen Theatern spielen und unzählige Menschen zum Lachen bringen. Vielleicht auch die, die sich hier gerade im Freudentaumel in den Armen liegen. Beruflich wird alles gut.
    Und privat? Wenn ich heute Carsten treffe, werden sicher einige Erlebnisse in meiner Zukunft wegfallen. Die schlechten auf jeden Fall, aber auch die Guten. Das ist normal, denke ich. Da muss ich durch. »Tati, lach doch mal!«, schreit Ingo und klopft mir von hinten auf den Kopf. Ich lache ihn an und denke, dass ich zum Beispiel Ingos Unkompliziertheit verpasse, die mich die Wendezeit, ohne viele Grübeleien, leichter erleben lässt. Ich verpasse die tolle erste Reise nach Ibiza, bei der Pauli, Ingo und ich gemeinsam zum ersten Mal einen West-Urlaub erleben. Wir aßen wie ausgehungerte Wilde ständig Tomatensalat mit Aioli und spanisches Weißbrot, staunten über riesige Kakteen und Pflanzen, die wir aus Deutschland nur als vermickerte Exemplare kannten, und genossen die Sonne, das Hotel und die Halbpension in vollen Zügen.
    Während mein Trabi brummt und dem Goldenen Apfel immer näher kommt, denke ich an Flo, meinen sogenannten Spätverlobten, den ich wahrscheinlich nicht kennenlernen werde. Dann wären wir heute, also im neuen Jahrtausend, auch nicht befreundet. Wir würden weder seit Jahren zusammen das Weihnachtsfest verbringen noch mit ihm und seiner Freundin beim Tatortgucken zusammen Mörder enttarnen. Und Chica müsste auf die Hackfleischbällchen verzichten, die Flo ihr immer mitbringt. Ach ja, meine Katze! Meine süße Chica, die ständig Schnupfen hat und wahrscheinlich unter einer Katzenhaarallergie leidet, hätte ich mir garantiert nicht angeschafft. Carsten mag keine Katzen und hat sich an Chica nur gewöhnt, weil sie vor ihm da war.
    »Hallo, Tati, wo bist du mit deinen Gedanken?« Betty wedelt mit ihrer Hand vor meinem Gesicht. »Bei Carsten!«, sage ich.
    »Wer ist denn dieser Carsten?«, fragt Ingo. Ich sage ihm nicht, dass Carsten mir gesagt hat, dass er mich gern eher kennengelernt hätte und ich ihm diesen Wunsch heute erfüllen will, sondern: »Das ist ein bekannter Barkeeper. Den besuchen wir jetzt in seiner Bar und feiern den Mauerfall!«
    Ingo freut sich: »Das fetzt. Wir gehen schwofen!«
    Ich
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