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Herr Möslein ist tot (German Edition)

Herr Möslein ist tot (German Edition)

Titel: Herr Möslein ist tot (German Edition)
Autoren: Tatjana Meissner
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zurückschicken würde, dass wir erst einen Antrag zum Antrag zum Antrag besorgen müssten. Aber – welch Wunder – alles ging reibungslos. Wir mussten Zettel ausfüllen und Ausweise zeigen, und schon wenige Minuten später rollten wir die Avus entlang. Ingo saß auf dem Beifahrersitz neben mir. Er schrie, trampelte und jubelte, während ich versuchte, mich zu orientieren. Wir folgten der Blech- und Papplawine Richtung Ku’damm. Ganz langsam rollten wir an gefühlten Millionen feiernden Berlinern vorbei, die sich in den Armen lagen, sangen, tranken, unseren Trabi tätschelten, uns Rosen und sogar Geld ins Auto warfen. Es waren auch einige dabei, die von uns 25 Mark Eintritt forderten. Egal, wir waren überwältigt, liefen staunend durch Joe’s Disco, freuten uns über freien Eintritt, schauten in Kneipen und Restaurants.
    Nachdem wir die Festmeile passiert hatten, beschlossen wir, mein Tantchen in Mariendorf zu besuchen. Ich hatte wegen Alu am Vormittag mit ihr telefoniert, ihre Telefonnummer hing in meinem Trabi, befestigt an einer ostdeutschen Rarität: einem Zettelblock, den man an der Frontscheibe befestigen konnte. Bei Tantchen war alles dunkel. Es war erst 4:30 Uhr, wir wollten sie schlafen lassen, stellten den Trabi ab und vertrieben uns die Zeit damit, U-Bahn zu fahren. Als wir eine Stunde später zurückkehrten, hatte sich an unserem Trabi eine Gruppe Menschen versammelt. Während wir zu den zwei Polizisten und der Frau gingen, von denen wir annahmen, sie bestaunten das seltene Papp-Auto, erklärte uns die Dame schon von weitem, dass sie nicht aus ihrer Ausfahrt herausgekommen sei und darum die Polizei gerufen hätte. Einer der Polizisten belehrte uns daraufhin, dass man an abgesenkten Bürgersteigen nicht parken dürfe. Wir schauten wie zwei eben noch glückliche Kinder, denen man den Schnuller aus dem Mund gezogen hat. Die Westberliner Ordnungsmacht sagte, mangels Reaktion unsererseits: »Wir haben den Abschleppwagen bestellt, weil ihre Tante nichts von einem Besuch aus dem Osten wusste!«
    »Woher kennen sie meine Tante?«
    »Wir haben die Berliner Nummer, die an ihrem Cockpit klebt, angerufen!«
    »Oh! Sie haben meine Tante geweckt«, stellte ich fest und dachte: Unser ABV hätte erst eine funktionierende Telefonzelle finden müssen.
    »Müssen wir das jetzt bezahlen?«, fragte Ingo verwirrt und in tiefstem Sächsisch.
    »Natürlich!«
    »Abor mir ham nur Ostgeld, wie solln das geihen?«, schrie Ingo aufgeregt. Nach einigem Zögern sagte der Polizist zu unserer Erleichterung: »Ausnahmsweise verzichten wir und bestellen den Abschleppwagen wieder ab.«
    Wie oft habe ich diese Geschichte in den folgenden über zwanzig Jahren erzählt. Auch die, wie wir nach einem Frühstück bei meinem glücklichen Tantchen Ingos Mama in Dresden anriefen.
    »Muddi!«, jubelte Ingo in den Hörer, »Mir sin im Westen!«
    Muddi hatte im Tal der Ahnungslosen, wo Westsender nicht mal mit dem störungsverhindernden Zusatzgerät namens »Tschechentod« eine Chance hatten, wirklich keine Ahnung vom Mauerfall und fing bitterlich an zu weinen. Sie hatte Angst, ihren Sohn nie wiederzusehen. Wir konnten sie trösten und fuhren überwältigt, glücklich und müde nach Potsdam zurück.
    Egal, ob ich meine Mauerfall-Geschichte erzähle, die anderer Menschen höre oder ob ich Reportagen darüber im Fernsehen anschaue: Ich bin jedes Mal gerührt, aufgewühlt und glücklich. Carsten dagegen weiß nicht, was er an diesem Tag getan oder gedacht hat. Das finde ich komisch. Auch deswegen werde ich heute, bei meinem zweiten Mauerfall, meine persönliche Mission erfüllen und auf dem schnellsten Weg zum Date mit Carsten fahren. Diesmal werde ich dafür sorgen, dass mein Traummann diesen Tag nie wieder vergessen wird.
    ***
    Mein zweiter 9. November 1989 beginnt wie der erste. In der Nacht hat es ein wenig geregnet, der Blick durch das Erkerfenster über meinem Bett zeigt mir einen grauen Himmel. Pauli sitzt, eingekuschelt in ihre Bettdecke, neben mir und hat den Fernseher eingeschaltet. Der Wetterbericht verspricht gegen Mittag frühlingshafte zehn Grad und Sonnenschein. Ich beschließe, Pauli nicht in den Kindergarten zu bringen. Nach dem Frühstück, auf dem Weg zu Betty, telefoniere ich mit meiner Tante in Westberlin. Alu geht es gut. Sie absolviert gerade ihren Anmelde-Marathon durch die Ämter. Ich sage nichts von meinem Besuch heute Nacht, denn diesmal werde ich Tantchen schlafen lassen. Gegen elf Uhr klingeln wir bei Betty, weil ich ihr
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