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Herr Möslein ist tot (German Edition)

Herr Möslein ist tot (German Edition)

Titel: Herr Möslein ist tot (German Edition)
Autoren: Tatjana Meissner
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einer anwesenden Person für ihr Honorar auch auftreten zu wollen. Ich dagegen bin beim Anblick der leeren Nachtbar jedes Mal froh, dass ich in meinem zukünftigen Leben vor vollen Häusern spielen darf. Denn bald werden Künstlerhonorare höchstens in ausgewählten, staatlich geförderten Kultureinrichtungen unabhängig davon gezahlt, was gespielt wird und wie viele Zuschauer sich dafür interessieren. Bevor ich mich darüber ärgern kann, dass die Barbesucher ohnehin nicht wegen der kulturellen Umrahmung hierher kommen, lenken die Hormone meine Gedanken in eine angenehmere Richtung, denn Ingo stellt sich jeden Tag beim Blick durch den Vorhang ganz dicht hinter mich und versucht, mit heftigen Flirtattacken an unseren versächselten erotischen Abend anzuknüpfen. Aber ich bleibe stark. Ich vertanze meine Libido im knappen Netztrikot zu Michael Jacksons »Liberian Girl« und lasse mich, das Date mit Carsten fest im Blick, nicht zu weiteren Intimitäten verleiten. Allabendlich verlassen wir um null Uhr das Café Moskau und fahren nach Hause.

Looking For Freedom
    Heute ist endlich der 9. November. Ein Tag, der das Leben fast aller Menschen in Deutschland, besonders aber das der Ostdeutschen, verändern wird. Heute glaube ich, dass ich mich damals, als ich diesen Tag zum ersten Mal erlebte, in einem J.R.-Schock befand. Weil dieser Tag, dessen Bedeutung mir erst viel später in vollem Umfang bewusst wurde, für mich so außergewöhnlich, überwältigend und unvorhersehbar war. Bei Carsten ist das anders. Er ist der einzige Mensch, den ich kenne, der sich nicht erinnern kann, was er an diesem historischen Tag gemacht hat. Darum scheint er mir doppelt genervt, wenn ich ihm ausführlich und bis ins kleinste Detail zum hundertsten Mal von meinem 9. November berichte:
    Schon auf unserer Hinfahrt zum Café Moskau unterschied sich dieser Tag von den drei vorangegangenen. Als wir gegen 21.30 Uhr in Bettys Trabi die Stadtgrenze Berlins passierten, war irgendwie mehr Betrieb auf den Straßen. Nicht sofort wahrnehmbar, vielleicht wie auf einem Suchbild. Die erste Frage, die wir beim Betreten der Künstlergarderobe an unsere bereits anwesenden Phonomimik-Kollegen, an Ingo und den Diskotheker stellten, lautete deshalb: »Sagt mal, ist irgendetwas passiert? Es sind irgendwie mehr Menschen auf der Straße!«
    »Ist uns auch aufgefallen, aber wir haben keine Ahnung«, erwiderte einer der Kollegen recht gleichgültig. Beim heimlichen »Durch-den-Vorhang-Blick« in die dunkle Bar sahen wir zehn Personen an ihren Drinks schlürfen, durch die Lautsprecherboxen klang typische Barmusik, es tanzte noch niemand. Hier war alles wie immer. Trotzdem nahmen Betty und ich uns vor, auf dem Rückweg jemanden zu fragen. Gegen halb eins fuhren wir, zusammen mit Ingo, am Ende der Warschauer Straße rechts ran; nicht nur, weil tausende Menschen die Straße Richtung Westen überquerten, sondern auch, weil dort ein Abschnittsbevollmächtigter stand. Der folgende Wortwechsel hat sich haargenau in mein Gedächtnis eingebrannt. Wir fragten den ABV : »Wo gehen die denn alle hin?«
    »Na in den Westen!«, erwiderte er, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.
    »Und kommen die zurück?«, fragte ich fast schnappatmig über Betty hinweg durch das heruntergeleierte Trabifenster.
    »Ich hoffe!« Der ABV verzog keine Mine.
    »Und dürfen wir auch in den Westen fahren?« Betty kreischte fast.
    »Ja, wenn Sie wiederkommen!« Er nickte und zeigte uns mit lässigem Handzeichen, dass wir nun weiterzufahren hätten.
    Wir tobten und kreischten nicht, wir waren in nachdenklicher Freude fassungslos und konnten uns nicht vorstellen, dass dieser Zustand von Dauer sein könnte. Auch Wochen später waren wir noch für Gerüchte empfänglich, die uns glauben machten, dass die Reisefreiheit auf dreißig Ausflüge im Jahr beschränkt sein würde, so dass wir zu den nächsten Auftritten in der Moskau-Bar sicherheitshalber außen herum fuhren. Jetzt aber, nach dem Dialog mit dem Polizisten, wollten sich Ingo, der damals schon mit mir zusammen war, und ich sofort mit eigenen Augen von den offenen Grenzen überzeugen. Betty fuhr uns mit Trabi-Höchstgeschwindigkeit in die Thälmannstraße, wo Ingo und ich sofort in meine Pappe umstiegen, wogegen Betty zu ihrer Familie fahren und mit ihnen feiern wollte. Am Grenzübergang Drewitz erwarteten Ingo und mich unzählige Autos, aufgeregte Menschen, überforderte Kontrolleure, und wir hatten, ostdeutsch sozialisiert, Angst, dass man uns
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