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Herr Möslein ist tot (German Edition)

Herr Möslein ist tot (German Edition)

Titel: Herr Möslein ist tot (German Edition)
Autoren: Tatjana Meissner
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wie eine Zwanzigjährige, denke aber wie eine Frau, die zwei Gesellschaftssysteme durchlebt, in sechs Berufen gearbeitet, eine Tochter großgezogen und vier Männer verschlissen hat. Die etwa Zwanzigjährige im Spiegel lacht, und ich denke: »Diese Eigenschaften sind die perfekten Voraussetzungen für eine Nachwende-Bewerbung: blutjung, aber mit dreißigjähriger Berufserfahrung und solider Ausbildung.« Vielleicht träume ich genau wie die Human Resource Manager der Konzerne und Firmen des 21. Jahrhunderts.
    Oder träume ich überhaupt? Vielleicht … natürlich. Ich träume, weil ich mich in letzter Zeit aus unerfindlichen Gründen ständig mit meiner Vergangenheit beschäftige und jede Gelegenheit nutze – ob ich mit Carsten unterwegs bin, eine Dokumentation im Fernsehen läuft oder ich die nächste Falte in meinem Gesicht entdecke –, eine Anekdote aus meiner Jugend zum Besten zu geben. Ganz so real wie die nackte, dürre Frau im Spiegel in diesem Traum sind meine Anekdoten natürlich nicht. Sie sind über die Jahre ein wenig abgeschliffen, aufgehübscht und bei vielen Gelegenheiten schöngeredet. Vielleicht ist Carstens DVD -Geburtstagsgeschenk gar kein Liebesbeweis, sondern ein Racheakt. Vielleicht war es Absicht, dass sein Geschenk mein Unterbewusstsein zu einem verhaltensbiologischen Selbstversuch animiert und ich jetzt diesen Albtraum durchleben muss. Ich werde mich wachkneifen und ihn fragen. Mit zwei Fingern greife ich die Haut meines linken Oberarms und registriere, dass sie so straff ist, dass sich nicht eine kleine Runzelfalte beim Zukneifen bildet. Der jetzt folgende Schmerz scheint mir in seiner Intensität sehr real. »Ahhhhhhh! Ffffffffff!« Ich lasse los und bin erstaunt, dass mein Oberarm zwar gerötet, aber sofort in die alte Form zurückgesprungen ist. Dann blicke ich optimistisch auf und muss feststellen, dass ich immer noch in dem blöden Ost-Badezimmer stehe. Was soll das? Resigniert setze ich mich auf den Wannenrand und blicke, ausgehend von meinen dünnen Beinen, über die erstaunlich volle Schambehaarung und den völlig ringfreien Bauch auf meine sehr flache Brust. Immerhin, die Brustwarzen funktionieren und signalisieren mir, dass ich friere. Warum träume ich nicht von einer warmen Wohnung? Ich sollte mir etwas anziehen. Meine Kleiderschränke stehen im Schlafzimmer. Ja, in dem Schlafzimmer, in dem ich meinen Ex-Mann Heinz mit der verfilzten Dauerwelle aus der Eckkneipe beim Fremdgehen erwischt hatte. Das ist abgeschlossen. Die Fremdgehgeschichte und die Schlafzimmertür. Ulkig. Ich muss dann wohl im Wohnzimmer geschlafen haben. Na klar, deswegen war es vorhin so laut. Das zerwühlte Bett mit der alten Palmenbettwäsche steht im Erker. Diese Bettwäsche hatte mich sage und schreibe 275 Mark gekostet, die ich ausgegeben hatte, um mir das Gefühl von karibischen Nächten, die ich aus erster Hand nicht kannte, zu ermöglichen.
    Der Erker ragt direkt über die heute geteerte Großbeeren-, aber damals kopfsteingepflasterte Ernst-Thälmann-Straße. Ich schaue mich auf der Suche nach meinen Klamotten um. Das Zimmer wird von einem großen, uralten Kachelofen mit Krone dominiert, der Stuck an der Decke ist fast vollständig erhalten. Das antike Sofa und die Sessel hatte Papa für mich zur Hochzeit mit passendem, im Biedermeier-Stil gewebtem Stoff beziehen lassen. Hellgrüne Streifen und rosa Blumenkörbchen. Genauso habe ich das alles in Erinnerung. Heute steht das durchgesessene Ensemble in der Kneipe des Potsdamer Kabaretts. Während ich meinen Blick über die mir von meinen Eltern und Großeltern geschenkten und im wilden Stilmix zusammengewürfelten Möbel streifen lasse, kommt es mir so vor, als wäre in meinem Kopf eine alte Kommode versteckt, deren Schubfächer sich jetzt nach und nach öffnen und verstaubte Erinnerungsschätze freigeben. Da, der Fünfziger-Jahre-Wohnzimmerschrank mit Aufsatz! Um den hatte Heinz nach der Scheidung gekämpft, genauso wie um den von meinem Schwager selbstgebrannten Blumentopf auf dem Fensterbrett. In besagtem Schrank finde ich endlich meine Klamotten. Baumwollschlüpfer und Socken. BH brauche ich nicht. Ich kann mich zwischen zwei Jeans entscheiden, beide stonewashed. Na super … die Ossi-Erkennungshose. Ah, da ist der Pullover aus dem Exquisit, den ich mir von meinem zweiten Tänzerhonorar trotz wilder Beschimpfungen von Heinz geleistet hatte. Er ist langärmlig, aus schwarzer Wolle mit eingestrickten, roten Zwiebeltürmen, die an Russland erinnern. Oder
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