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Herr Möslein ist tot (German Edition)

Herr Möslein ist tot (German Edition)

Titel: Herr Möslein ist tot (German Edition)
Autoren: Tatjana Meissner
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rot wird.« Die Mundwinkel der jungen Frau ziehen sich angewidert nach unten.
    Körperlich erleichtert, aber psychisch komplett verwirrt schaue ich mich im Raum um, sehe braune Fliesentapete über der Wanne, einen riesigen braun-beigen Gasheizköper unterm Fenster, einen Waschvollautomaten – den VA 861 aus dem Waschgerätewerk Schwarzenberg – direkt neben der abgebeizten Holztür am Eingang des langen, aber schmalen Badezimmers. Links von mir ist ein Waschbecken. Ich drehe an der altertümlichen Mischbatterie, die mir jetzt viel zu heißes Wasser entgegenspuckt. Das kommt aus dem über dem Vollautomaten an der Decke hängenden 80-l-Elektroboiler, denke ich, als die junge Frau im Waschbeckenspiegel aufschreit. Ich fühle mich wie in dem Film »Psycho«: verblasste Farben, spitze Schreie und Angst. Wo bin ich hier? Diese Situation, der kratzige grüne Nadelfilzboden unter meinen Füßen und die ganze nach Kohleofen riechende Dreiraumwohnung kommen mir eigenartig vertraut und trotzdem fremd vor. Vertraut, weil ich diese Einrichtungsgegenstände kenne. So einen Heizkörper hatte ich mir durch meinen Job als Fachgebietsleiter im Maschinenbauhandel Potsdam, Abteilung »Halbleiter/Widerstände« (Ich sage immer: »Ich war schon vor der Wende im Widerstand tätig!«) und die guten Beziehungen zum Baustoffhandel erbettelt. Für den Waschvollautomaten hatte ich die Anmeldung meiner Russischlehrerin beim Studium in Leipzig nutzen dürfen und die 1000,- Mark mit meinem Ehekredit bezahlt. Diese Erinnerungen tauchen in ungeordneter Reihenfolge aus einer Nebelbank meines Gehirns auf. Sie waren ganz tief versteckt – wie im Winterschlaf – und wollen plötzlich alle an die Oberfläche. Ich drehe an dem Wasserhahn mit dem blauen Punkt. Auf dem Rand des Waschbeckens stehen eine Dose Florena-Creme, ein Action-Haarspray und ein »Grüner Apfel- Shampoo«; die Seife hängt an einem Magneten befestigt an der Wand darüber. Wo ist meine ph-neutrale Handwaschseife? Ich öffne die Tür des braunen Plaste-Spiegelschrankes und finde eine Packung Damenbinden. »Albazell«. Das sind die mit dem komischen Mullzeug drumrum, die an nicht so »starken Tagen« den Rücken hochklettern. Wer hat die denn gekauft? Wusste gar nicht, dass es die noch gibt. Neben den Monsterbinden liegen Monster-Tampons namens » NEON« . Ich hole eins aus der rosa Pappschachtel und versuche es so in die Hand zu nehmen, wie die Frau in der o.b.-Werbung. Geht nicht. Die Ausmaße dieses Tampons mögen sich manche Frauen bei ihrem Gatten wünschen. Ich dagegen schlage vor Schreck die Spiegeltür wieder zu und schmeiße das Prachtexemplar in den Mülleimer neben mir. Im Spiegel schräg hinter mir sehe ich einen fast bis zur Decke reichenden Gummibaum. Mir fällt ein, dass ich genauso einen nach meinem Studenteneinsatz auf der Leipziger Messe mitnehmen durfte und meine vierjährige Pauli, in einem kreativen Dekorationsanfall, denselben mit NEON -Tampons behängte. Mein Lachen hallt durch das Badezimmer.
    Vielleicht bin ich tatsächlich in meiner alten Wohnung in Babelsberg? In der Ernst-Thälmann-Straße 35? Und dieses grinsende Spiegelporträt ist mein eigenes? Beim Händewaschen gehe ich mit meinem Gesicht ganz dicht an den Spiegel heran, um herauszubekommen, ob mir eventuell meine Altersweitsichtigkeit ein jugendliches Aussehen vorgaukelt. Anscheinend nicht. Das Gesicht bleibt aus jeder Entfernung gleich scharf und faltenfrei. Die Haare sind dunkelbraun – mein Naturton. Ich hatte mir meine Haare nach der Trennung von Ingo blondieren lassen und trage sie bis heute mit blonden Strähnen, die den grauen Haaransatz verdecken und – wie meine Mama meint – mich jünger wirken lassen. So jung wie das Spiegelbild wirke ich damit freilich nicht. Das Spiegelgesicht ist glatt. Carsten würde sich freuen, wenn ich seine Hemden beim Bügeln so hinbekäme. Das Spiegel-Dekolletee ist knochig. Brust? Fehlanzeige. Ich versuche meine Yoga-Atmung, um mein wild hüpfendes Herz zu beruhigen, atme langsam ein und aus und versuche, das, was ich sehe, in Worte zu fassen. Nach fünf Atemzügen sage ich laut das Unfassbare: »Okay, Tati, die junge Frau im Spiegel, das bist eindeutig du. Nur etwa 25 Jahre jünger!« Meine Stimme klingt etwas höher, aber genauso bestimmt wie immer. Der Satz klettert in meinen Gehörgang, meine Synapsen führen einen wilden Tanz auf, mein Gehirn kapituliert fast vor der unbegreiflichen Situation. Ich befinde mich anscheinend in der Vergangenheit, sehe aus
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