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Herr Möslein ist tot (German Edition)

Herr Möslein ist tot (German Edition)

Titel: Herr Möslein ist tot (German Edition)
Autoren: Tatjana Meissner
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vibriert. Was für ein tolles Geschenk! Aus den Fernseherboxen klingt »Smooth Criminal« von Michael Jackson. Dazu tanzen meine Kollegin Betty und ich in schwarzen Bundlederjacken. Die hatten wir uns von einer Schneiderin des Friedrichstadtpalastes nähen lassen und eigenhändig mit Angelsehne und dicker Nadel mit Strasssteinen bestickt, bis die Finger bluteten. Ich schaue auf unsere schlanken, im Rhythmus zuckenden Körper, und meine Gedanken verfangen sich in Erinnerungen an meine Tänzerkarriere als Mitglied der »Showdancers Cora«, die für mich damals aufregendste Zeit meines Lebens: mit viel Glamour, Prominenten, einigen Fernsehauftritten und ersten Reisen ins kapitalistische Ausland. Ich grinse bei dem Gedanken an unser erstes Fotoshooting zu Werbezwecken. Betty sagte, ich solle erotisch gucken. Ich hatte keine Ahnung, was sie damit meinen könnte. Auf den Fotos habe ich einen Gesichtsausdruck, als hätte man mich auf der Toilette überrascht.
    Auf dem Fernsehbildschirm sehe ich jetzt meine Eltern in ihrer Erfurter Neubauwohnung auf dem Johannesplatz. Ich erinnere mich, wie Mama damals mit mir schimpfte: »Was sollen denn unsere Bekannten denken, wenn du dich von Heinz scheiden lässt?« Heute würde ich darüber lachen, wüsste ich doch, dass alles gut ausgeht und mich so aufregende Zeiten erwarten, wie sie sich damals niemand in seinen kühnsten Träumen vorstellen konnte. Damals, als ich jung und unerfahren war und die falschen Männer liebte.

Nur geträumt
    Dieses Gläserklirren nervt mich gerade mehr als jedes Kindergeschrei. Ich bin schrecklich müde, denn gestern ist es spät geworden – mit Markus Lanz und meinem Geburtstag und der DVD von Carsten. Dieser Lärm! Es klingt, als ob ein Düsenjet direkt über meine alte Küchenglasvitrine fliegt. Und wieso wackelt mein Bett, als ob hundert Vibratoren in die Matratze eingenäht wurden? Ich wickle mir mein Kopfkissen um den Kopf, drücke es mit beiden Händen auf die Ohren und kneife die Augen so fest zu, dass mich kein Tageslicht von meinem wohlverdienten Schlaf abhalten kann. Wenn alles gut läuft, schlafe ich unter Anwendung meiner Yoga-Atemübung wieder ein. Sechs Zählzeiten durch die Nase ein, sechs Zählzeiten durch den Mund aus. Und ein, und aus, und ein und aus. Es scheppert und zischt. Welcher Idiot arbeitet so früh am Morgen mit einem Presslufthammer?, überlege ich. Die Bauarbeiten auf dem Nachbargrundstück sind doch seit einem halben Jahr beendet? Und überhaupt: Die Glasvitrine steht in der Küche und nicht in meinem Schlafzimmer. Bin ich gestern etwa mit den Prosecco-Gläsern ins Bett gegangen? Und ein, und aus. Meine Blase drückt. Ein sicheres Zeichen, dass mein Gehirn zum Schlafen viel zu aktiv ist. Egal. Durch jahrelanges Training weiß ich, dass mich ein Toilettengang nur wecken kann, wenn ich die Augen öffne. Ich probiere es. Ich krieche wie eine Blindschleiche aus dem Bett, stolpere über einen Sessel, taste mich geradeaus durchs Zimmer. Hier links ist die Toilette, Tür auf und direkt gegenüber hinsetzen.
    Ich greife nach hinten, beuge zeitgleich die Knie und stürze auf meinen nackten Hintern. Autsch. Vorsichtig öffne ich ein Auge und bin schlagartig wach. Ich sitze im, mit grünem kratzigen Nadelfilz ausgelegten, Flur meiner Dreiraum-Wohnung in Potsdam-Babelsberg, aus der ich eigentlich 1998 ausgezogen war, und bin splitterfasernackt. Hä, nackt? Ich schlafe doch schon seit Jahren aus prophylaktischen Blasentzündungsgründen mit T-Shirt und Bettsocken. Während mein Gehirn Purzelbäume schlägt, sprinte ich zur Toilette und gebe dem Druck meiner Blase nach. An der nur wenige Zentimeter von meinen Knien entfernten Wand hängen fünf typische DDR -Toilettenspiegel über- und nebeneinander. Daraus blickt mich eine junge Frau mit dunkelbrauner Achtziger-Jahre-Strubbelfrisur, faltenfreiem Gesicht und verwirrt blickenden braunen Augen an. Ich komme mir beobachtet vor. Die Frau vor mir scheint sich ebenfalls gerade zu erleichtern, denn ihr Gesicht sieht so entspannt aus wie Carstens, wenn er auf dem Küchensofa einschläft. Ohne den Blick von der jungen Frau zu wenden, greife ich zu dem ebenfalls im Spiegel sichtbaren Toilettenpapier, das rechts von mir aus einem braunen Plastikbehälter hängt und sich in meiner Hand zwar vertraut, aber genauso steif, grau und furchtbar kratzend anfühlt wie an meinem Intimbereich. Mein Kumpel Ronny hat mal gesagt: »Klopapier im Osten war so hart und kratzig, damit auch noch der letzte Arsch
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