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Herr Möslein ist tot (German Edition)

Herr Möslein ist tot (German Edition)

Titel: Herr Möslein ist tot (German Edition)
Autoren: Tatjana Meissner
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eines der vielen Zeichen, wie gut wir zusammenpassen.
    Während ich mich noch wundere, steppt Carsten wie Fred Astaire mit Darmgrippe durch die Küche. Das macht Carsten immer so, wenn er mich zum Lachen bringen will. Das klappt auch diesmal. Und ich reagiere, wie er es von mir erwartet: Springe vom Tisch auf, stürze mich auf ihn und kitzle ihn so lange, bis er mir mein Geschenk freiwillig aushändigt. Das Päckchen ist so groß wie eine CD , fasst sich unter dem Geschenkpapier, welches ich wenig weihevoll aufreiße, genauso an und … ist auch eine CD . Darauf steht: »50 Jahre Tati!«
    Och … nö! Hat Carsten etwa Lieder aus meiner Jugend zusammengeschnitten? Oder mir einen Song eingesungen, so wie ich für ihn im vergangenen Jahr? Mhpfff. Bevor ich wieder aufblicke, ziehe ich meinen Mund in eine lächelnde Position. »Danke!«, hauche ich und weiß nicht, ob ich gerührt oder enttäuscht sein soll. Carsten ist so aufgeregt, dass er meine Zerrissenheit nicht bemerkt. Mit einem fröhlichen »Die legen wir jetzt ein!«, rennt er in mein Arbeitszimmer. Ich folge ihm und habe wenig später jeden Grund dieser Welt, total gerührt zu sein. Denn die CD entpuppt sich als DVD , für die Carsten in monatelanger Arbeit einen kleinen Film produziert hat. Er bat, wie er mir stolz berichtet, alle Freunde und Bekannten um Bild- und Filmmaterial, sah heimlich meine Fotoalben und DVD s durch und fügte so ein Tagebuch meines jetzt fünfzigjährigen Lebens zusammen. Wie lieb ist das denn! Meine Augen füllen sich sofort mit Tränen, aber das machen sie so oft, dass ich darauf keine Rücksicht nehmen kann. Ich schaue gespannt auf den Fernsehbildschirm, und alle Markus Lanze dieser Welt können mir gestohlen bleiben.
    Ich will nur diesen Film sehen, denn ich liebe es eigentlich, mich an früher zu erinnern, die alte Musik zu hören. Ich könnte stundenlang Anekdoten aus meiner Jugend zum Besten geben. In letzter Zeit tue ich das so oft, dass ich manchmal nur den Mund öffnen muss, damit Carsten mit den Augen rollt und sagt: »Das hast Du mir bereits zweimal erzählt!«, oder nur: »Ich weiß!«
    Und obwohl ihn meine alten Geschichten so sehr nerven, hat er sich ausführlich mit meinem Leben beschäftigt. Wir kuscheln auf der roten Gäste-Couch im Arbeitszimmer, und los geht’s: mit Vorspann und dem Puhdys-Song »Alt wie ein Baum möchte ich werden«. Genau, denke ich glücklich, nur nicht so aussehen. Die ersten Bilder sind Schwarz-Weiß-Fotos. Ich als glatzköpfiges Baby im hochrädrigen Bollerwagen in meiner Geburtsstadt Tangermünde, als dickes Kindergartenkind bei Oma und Opa in Rothenschirmbach, als Schulkind in Bötzow und später in Erfurt. Dazu erklingen Lieder wie »Hurra, ich bin ein Schulkind und nicht mehr klein« oder »Unsre Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer«, und zu den Jugendweihebildern singt der Oktoberklub »Sag mir, wo Du stehst«. Obwohl ich die Lieder seit meiner Kindheit nicht mehr gehört habe, bin ich total textsicher. Unglaublich!
    Die ersten bewegten Bilder gibt es von Paula. Mit Paulas Geburt begann mein Leben als junge Fachgebietsleiterin im Maschinenbauhandel Potsdam. Da, wo der Staat mich brauchte. Den kleinen Urlaubsfilm muss Carsten von meinen längsten Potsdamer Freunden Rudi und Gisi haben, denn Paula lümmelt auf einer Hängematte im Garten von Gisis Eltern. Dort hatten wir Mitte der Achtziger unseren Sommerurlaub verbracht. Mein dickes Kind will gerade Gisis Sohn ein Kleeblatt schenken, aber er schlägt es ihr aus der Hand, so dass Paula ins Straucheln gerät. Eine nackte magersüchtige Frau mit Angela-Davis-Frisur springt ins Bild und rettet Paula vor dem Sturz. Ich drücke auf Pause, gucke genauer und erkenne mich. Mein Gott! Wie sah ich denn aus? Aufgeregt rufe ich: »Guck mal Carsten … das bin ja ich! Mit Dauerwelle und platt wie ein Brett. Kein Wunder, dass mir mein Vater damals immer trockene Brötchen mit dem Hinweis schenkte, dass die das Brustwachstum fördern würden.«
    »Ch…Chrrrrr« – Carsten schreckt hoch. »Ich glaube, ich muss ins Bett«, sagt er, »und übrigens hieß das damals Kaltwelle!« Er gibt mir einen Papakuss auf die Stirn und verschwindet vor Müdigkeit torkelnd ins Schlafzimmer. Ich nutze den frei gewordenen Platz auf der Wohnzimmercouch, und während ich mich noch zurechtlege, kommt Chica und kuschelt sich an meinen Bauch. Jetzt weiß ich nicht mehr genau, ob mein Bauch vor aufgeregter Erinnerungsfreude kribbelt oder von Chicas Schnurren
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