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Herr Merse bricht auf

Herr Merse bricht auf

Titel: Herr Merse bricht auf
Autoren: K Nohr
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sie. Dagmar war einundvierzig, genauso alt wie Herr Merse.
    Dies alles war drei Jahre her, und Dagmar wohnte immer noch mit Andreas in der Eppendorfer Wohnung. Und wird da bleiben, dachte er. Er sah sich um. Alles verstaut? Wird. Hier passte das Wörtchen. Wird so bleiben. Da zehn Jahre Altersdifferenz, hier dreißig Zentimeter Höhenunterschied. » Kokolores«, brummte er und schloss den Koffer mit einem Rums.
    Halt. Welche Bücher mitnehmen? Und dann die schwierige Frage: Ferien vom Horn oder Ferien mit Horn? Auch in dieser Hinsicht war Dagmar führend gewesen. Sie wusste, was sie wollte. Vielleicht auch nur, weil er oft zögerte? » Die Flöte braucht ’ne Pause.« Damit legte sie sie in den Safe ihrer Eltern in Bergedorf und holte sie am Ende der Ferien von dort ab. Eine Goldflöte für achttausend Euro. » Bin zwar nicht Galway, aber das bin ich mir wert.« Galway, der berühmte Flötist, war, wie sie stets sagte, ihr innerer Herr und Meister: » Der hat auch pausiert.« Also. Dabei war dessen erste Ehe gerade an seinem pausen LOSEN nächtlichen Üben zerbrochen. Davon hatte Herr Merse in Galways Autobiographie gelesen. Sie sah das anders: » Das war nicht der wahre Grund.« Aber was ihrer Ansicht nach Galways Ehe auseinandergebracht hatte, bekam er ebenso wenig heraus wie die Botschaft, die in » zwei Bläser, zweimal Blech« verborgen lag. Galways Pausieren war laut Autobiographie durch einen Unfall erzwungen gewesen, es war keine Ferienfreiwilligkeit. » So weit lasse ich es nicht kommen, darum schreibt er ja darüber, man soll eben pausieren«, war Dagmars Resümee. Es blieb offen, ob darin schon damals eine kryptische Ehebotschaft an ihn gesteckt hatte.
    Herr Merse trennte sich schwerer vom Horn. Mit Dagmar– ja. Auf ihren gemeinsamen Unternehmungen, die nach Dagmars Vorstellungen als Aktivurlaube gestaltet wurden, hatten sie die Instrumente nicht brauchen können. Herr Merse ließ die Kofferschlösser noch einmal aufschnappen, weil der Ärmel eines Hemdes heraushing. Das Schnappgeräusch klang aktiv. Oh, damals waren sie sportlich gewesen. Hatten Kurse besucht: Tauchen, Segeln, Kanu. Einmal hatten sie es auch ohne Kurs mit Wandern auf der Schwäbischen Alb versucht. Nur sie zwei. Das war nicht so gut gegangen, weil es Dagmar neben ihm zu schweigsam geworden war den ganzen Tag die weiten stillen Hügel entlang. Sie hatten abends Anschluss an andere Wanderer gesucht, ohne Erfolg. Viele waren älter, blieben für sich. Sie hatten die Wanderung aber trotzdem durchgehalten, denn Dagmar befand: » Beim Flöten belaste ich immer nur die eine Seite, jetzt muss mal mein ganzer Körper ran.« Er sah sie vor sich, wie sie in einem Kanukurs mit dem Paddel so schwungvoll erst rechts, dann links ins Wasser stach, dass es aufspritzte. Er legte die Sonnencreme in den Koffer und schloss ihn endgültig.
    Herr Merse nahm das Horn mit. Ohne Horn fühlte er sich nackt und einsam. Außerdem wollte er Brahms üben.
    Er steckte einen Krimi in seine Umhängetasche, trat noch einmal an das Bücherregal und glitt mit Händen und Augen über die Reihen, bis sein Blick an dem dicken Roman » Der Mann ohne Eigenschaften« von Musil hängen blieb. Das Buch gehörte Dagmar. Er zog es heraus und öffnete es; auf der Titelseite stand ihr Name. » Passt besser zu dir«, mit diesen Worten hatte sie es bei seinem Auszug in eine seiner Bücherkisten gesteckt. Da er wusste, dass sie nur den Titel und nicht den Text kannte, hatte er ihre Bemerkung als abfällig empfunden und das Buch nie gelesen. Er brauchte jetzt aber für die Ferien mindestens ein dickes gutes Buch, das war klar. » Der Mann ohne Eigenschaften« gehörte zur Weltliteratur. Also. Er musste eine Welt mitnehmen, in die er sich vertiefen und in der er seine vergessen konnte. Werden wir ja sehen, dachte er. Ohne Eigenschaften.
    Er schloss seine kleine Wohnung ab und hinterlegte den Zweitschlüssel für Frau Niebuhr, die ältere Dame aus der Nachbarschaft, unter dem Stein auf dem Fenstersims. Frau Niebuhr goss für ihn die Blumen und sammelte die Post ein; vermutlich schaute sie nach, wer ihm schrieb, was Herrn Merse aber nicht störte. Er erhielt wenig Post. Seine Wohnung war praktisch. Sie lag ebenerdig neben einem Schuppen auf dem Gelände einer ehemaligen Fleischerei in Hamburg-Rahlstedt. Er konnte dort ungestört üben, und es war mit dem Fahrrad nicht weit zur Musikschule. Wenn es warm war, tranken die Hausbesitzer vor seinem Fenster im Garten Kaffee, und er hatte einmal
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