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Herr Merse bricht auf

Herr Merse bricht auf

Titel: Herr Merse bricht auf
Autoren: K Nohr
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geriffelten Tropenholzbretter. Die Treppe mündete am Korbverleih, dahinter befand sich die Rettungsstation mit den flatternden Badeerlaubnis-Wimpeln. Das Kliff fiel sanfter ab als in seiner Erinnerung und war sorgfältig durch Anpflanzungen vor Aushöhlung durch Sturmfluten geschützt. Früher hatte das Kliff schroffer, gelber und lehmiger dagestanden, unregelmäßig von oben nach unten durchfurcht von Wasserrinnsalen, vor deren schmal mäandernden Bahnen er oft grübelnd gestanden hatte.
    Er stapfte über den breiten Sandstrand nach vorn. Am Meer blieb er stehen. Die Wellen rollten in langen, parallelen, manchmal auch schrägen Reihen heran und türmten sich mehrfach übereinander; manchmal kamen die Wellenreihen vierfach geschichtet auf ihn zu. Dass Wasser auf Wasser lief! Die einzelnen Wellen bauten sich rund und wogend auf, erreichten ihre naturgegebene Höhe, brachen rauschend und prasselnd. Das weißgischtige Wasser lief flach aus, leckte den Strand feucht, hinterließ kranzartige dunkle Ränder und wurde auf unsichtbaren Befehl vom Meer zurückgesogen. Er breitete die Arme aus und stand still da, das Gesicht im Wind. Hinter seinem Rücken kreuzten Stimmen von Badegästen hin und her. Die Brandung war aber so laut, dass man nichts verstand. Gott sei Dank. Eine drahtige Frau trat neben ihm bis zu den Knöcheln ins Wasser und wusch den Sand aus ihrem schwarzen Badeanzug. Auf ihren muskulösen Waden zeigte sich Gänsehaut. Es war kein warmer Spätnachmittag.
    Herr Merse stand unverwandt, den Blick auf die bewegte, graugrüne Fläche mit der scharfen waagerechten Horizontlinie gerichtet. Ihm fielen Eichendorff-Zeilen ein. Schumanns Eichendorff-Vertonungen waren kürzlich Bestandteil eines Musikschulvorspiels gewesen, an dem auch seine » Hornissen« teilgenommen hatten. Die Lieder, von einem noch sehr jungen Mädchen schlicht vorgesungen, hatten ihn aufgewühlt. Zu Hause hatte er nach dem Vorspiel seine alte Gedichtsammlung aus der Schulzeit hervorgezogen und sich in Eichendorff-Texte vertieft. Er sprach die Liedzeilen als Sylt-Variation laut in den Wind: » Ich steh in Meeresbrausen / Wie an des Lebens Rand…« Bei dem Schlesier Eichendorff stand natürlich » Waldes Schatten«, was hier nicht passte. Die sportliche Frau warf ihm einen verwunderten Blick zu und schlenkerte den Badeanzug, dass einzelne Tropfen ihn bespritzten. Herr Merse schaute an sich herunter. Neben seinen Füßen lag ein weißlicher Gischtballen. Die Schaumreste zitterten. Jetzt bin ich angekommen, dachte er.
    Und nun?
    Er schlenderte Richtung Kampen. Hier begann der FKK -Strand, dann kam der Hundestrand. Früher hatten da keine Strandkörbe gestanden, jetzt aber lagen hier die Nackten auch in Körben. Allerdings waren sie wegen des Windes und der mäßigen Temperatur in Decken gehüllt und hielten nur ihre braunen Gesichter in die schräger einfallende, ab und an unter Wolken hervorkommende Sonne. Hoffentlich bleibt das Wetter so, dachte Herr Merse. Es war ihm gerade recht. Bevor er den Strand verließ, ging er beim Korbverleih vorbei und mietete für vier Wochen die Nummer 1423 . Das gönnte er sich. Einen geflochtenen, nummerierten weiß-blauen Kokon.
    Am Abend ging er essen, um seinen ersten Ferientag zu feiern, aber schwor sich nach dem wässrigen Fisch, Restaurants in Zukunft zu meiden. Von jetzt ab würde er kochen. Er machte Pläne, wie er die Tage verbringen wollte: Morgens joggen am Strand, danach die Zeitung holen und ausgiebig frühstücken. Dann, wenn die anderen zum Strand gingen, üben. Herr Merse hatte einiges an Noten mit: vor allem das Brahms’sche Horntrio, dann Wagner, das Englisch-Horn-Solo aus dem dritten Akt von » Tristan und Isolde« ( » Tristan und die Olle« laut Dagmar) in einer Bearbeitung für Horn, sein geheimes » Lebensstück«, und noch etwas Modernes für eine kleine Mugge auf dem Schleswig -Holstein-Festival. Nach dem Üben an den Strand mit einem Picknickkorb. Mit dem » Mann ohne Eigenschaften «. Baden. Lesen. Essen. Zwischendurch einkaufen. Vielleicht mit Leuten um seinen Strandkorb herum bekannt werden und hier und da klönen. Abends kochen. Ja. Und dann? Noch mal spazieren gehen, noch mal ans Meer. Es blieb ja lange hell. Er würde klarkommen. Die Luft machte müde. » Meer macht müde«, hörte er seinen Vater. Ja. Er könnte es wagen, die Tabletten langsam abzusetzen.
    Die Tabletten abzusetzen, sich » auszuschleichen«, war Herrn Merses Urlaubsprojekt neben dem » Mann ohne Eigenschaften« und
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