Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herr Merse bricht auf

Herr Merse bricht auf

Titel: Herr Merse bricht auf
Autoren: K Nohr
Vom Netzwerk:
zu. Als Herr Merse das Aufleuchten in Yvonnes graublauen Augen wahrnahm, fasste er augenblicklich den Entschluss, von den Tabletten wegzukommen. Der Neurologe war überrascht gewesen und hatte ihn noch einmal ermahnt, doch eine Psychotherapie aufzunehmen, um bei der schwierigen » Entwöhnung« eine Begleitung zu haben, aber Herr Merse wollte es allein versuchen: » Hilfe erdrückt mich.« » Ich nenne es Begleitung, nicht Hilfe«, hatte der Neurologe erwidert, und Herr Merse hatte ihm daraufhin von einem Pianisten erzählt, der an der Hochschule als Begleiter für die Hornisten und andere Bläser zuständig gewesen war und von dem er sich als Student angetrieben, erdrückt und heruntergemacht gefühlt hatte. Drei Jahre lang. » So ein Begleiter verdirbt einem alles«, sagte er. Der Neurologe zuckte die Achseln. » Es gibt auch gute Begleiter. Aufbauende. Verständnisvolle. Aber wenn Sie nicht wollen…« Er machte sich einen Vermerk und bestellte ihn für nach den Ferien ein: » Mal sehen, wie’s Ihnen ergangen ist. So einfach ist das nicht.« Er schaute in den Computer. » Sie haben die Tabletten fast drei Jahre lang eingenommen.«
    Herrn Merses Dosis bestand aus zwei Tabletten am Abend und einer am Morgen. Die abendlichen dämpften und beruhigten, die morgendliche schob an. Er beschloss, sehr langsam vorzugehen. Der Neurologe schien ihm zwar nichts zuzutrauen, aber er würde es versuchen. Eben schleichend. Vielleicht würde er dann gar nichts merken. Die Zeit heilt doch auch, dachte er. Er schnitt von der zweiten abendlichen Tablette ein Drittel ab. Also ein Zweidrittel heute. Klimawechsel. Reizklima. Trotzdem nagte die Angst an ihm, nicht einschlafen zu können. Ich muss doch am nächsten Tag nicht funktionieren, dachte er. Kann doch ’ne Weile wach liegen. Falls Gedankenqualen kämen, dann wäre noch SB als Einschlafhilfe möglich. SB war sein Kürzel für »Selbstbedienung«, wie er die Selbstbefriedigung für sich nannte. Er empfand seine Schlafstörungen als Makel. Dagmar hatte prächtig geschlafen, sogar geschnarcht. Das hatte ihn nicht gestört, im Gegenteil. Wenn er ihrem Schnarchen zugehört hatte, war er oft in eine weiche, leicht hypnotisierte Stimmung geraten und seinerseits eingeschlafen. Er legte sich auf die Seite und stellte sich Dagmars Schnarchen vor. Als harmonisch anflutendes und abebbendes Geräusch, hin und her, nicht zu laut, gleichmäßig wie das Meer…

Dienstag
    Ein lautes Gepladder weckte Herrn Merse am Morgen. Regen schlug gegen die Scheiben. Trotzdem stand er auf und zog sich zum Joggen an, das hatte er geplant, das würde ihm guttun, das setzte er um. » Was würde Ihnen denn guttun?«, war die Hauptfrage der Musiktherapeutin gewesen. Eine Frage, auf die keiner im Kurs leicht eine Antwort fand. Eine dicke Schneiderin, die jeden so treuherzig wie eindringlich mit immergleicher Energie fragte: » Ich bin doch nicht schuld, oder?«, hatte der Therapeutin einfach mit ihrer Frage geantwortet: » Bin ich denn schuld?« Sinnlos. Herr Merse wollte aber die Frage nach dem Guttun ab jetzt übernehmen. Tabletten absetzen würde ihm guttun. Das Horntrio würde ihm guttun. Joggen jetzt würde ihm guttun.
    Es war kühl. Einzelne Badegäste im Regenzeug (Dagmar: » Friesennerz«) gingen Brötchen holen. Der Strand unten dehnte sich endlos im Ebbezustand. Es waren nur wenige Jogger unterwegs. Er legte los. Es war angenehm, weil er dadurch das Frösteln überwand. Er fröstelte schnell ( » Frostbeule«). Die Füße stampften auf dem feuchten kühlen Sand. Ab und an trat er auf braunschwarzen Blasentang. Einige trocken gebliebene Blasen explodierten unter den Füßen mit Kracksgeräuschen, Muscheln und grobkörniger Sand gruben sich in die Fußsohlen. Er überlegte, ob es besser wäre, am Strand in Turnschuhen zu laufen ( » Joggingschuhen«). Weiter. Er hasste die immer einschießenden Dagmar-Formulierungen und lief gegen das Denken in seinem Kopf an. Der Wind trieb ihm den Regen ins Gesicht, er lief bis zum roten Kliff, drehte um und stampfte zurück. Er war ausdauernd mit seiner Hornistenlunge, er liebte es zu spüren, wie ihm die Luft geräuschvoll aus dem Mund strömte. Mit Lippenblabbern. Er ließ gern die Lippen blabbern. Früher auch mit Dagmar zusammen. Sie konnte es länger als er, hatte mehr Luft. » Du hast mehr Lust als Luft!«, hatte Dagmar oft gesagt. Er hatte das nicht ernst genommen. Nur so als Wortwitz aufgefasst. Was für ein Fehler. Er ackerte die Treppe am Kliff hoch, dann
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher